

Aufgehen in einer gut gelaunten Gruppe
Sebastian Fasthuber in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 44)
Die jungen Soziologen Paul Eisewicht und Tilo Grenz haben die Indieszene erforscht – und bloßgestellt
Früher war Independent mehr als nur ein hübsches Wort. Die in den 70er- und 80er-Jahren in Großbritannien und den USA herausgebildete Indiekultur um kleine Plattenlabels und nicht kommerziell orientierte Initiativen verstand sich als Opposition zum unerträglich gewordenen Dinosaurierrock und der New Wave der Yuppies. Die finanziellen Mittel waren beschränkt, die Musik präsentierte sich mit gutem Gefühl selbst gemacht.
Vor einer gänzlich anderen Situation sahen sich die deutschen Soziologen Paul Eisewicht und Tilo Grenz bei ihrer gemeinsamen Diplomarbeit über die Indiekultur ",Frei und auf den Beinen und gefangen will ich sein.' Über die Indies". Die Zeiten haben sich geändert, die behauptete Unabhängigkeit der Indieszene ist als Massenphänomen zwischen Megafestivals und einer grundlegenden Aufweichung des einstigen Gegensatzes zwischen Independent und Mainstream inzwischen längst ihrer Grundlage verlustig gegangen.
Viele aufgrund ihres Auftretens und Sounds mit Indie assoziierte Bands wie Mando Diao, die Kaiser Chiefs oder The Strokes veröffentlichten vom Beginn ihrer Karriere an auf Major Labels. Harte Zeiten etwa für einen im Rahmen der Studie befragten Ex-Fan der Gruppe Snow Patrol: "Der Titel Chasing Cars' war als Klingelton herunterladbar und lief in jeder Wohnungseinrichtungssendung im Hintergrund. Die Band war bei jedem Schnulliradiosender auf Platz 1 der Hitliste
Und so etwas finde ich schade. Wieder eine tolle Band an die Massen verloren."
Eisewicht und Grenz begehen leider den Fehler des nur am Rande mit seinem Forschungsgegenstand vertrauten Wissenschaftlers, das für Indie zu nehmen, was ihnen von den Medien und ihren Interviewpartnern als Indie verkauft wird. Zwischen einer pflichtgemäßen Erwähnung der Hamburger Schule, Zitieren aus den Texten von kommerziell schon sehr gut aufgestellten Neo-Postpunk-Bands und Ausflügen in puren Pop erweist man sich im musikalischen Bereich als einigermaßen ahnungslos. Auch die immer wieder angesprochene Feindschaft zwischen Indie und Hip-Hop lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.
Besser informiert zeigen sich die Soziologen, was die Beschreibung der szenetypischen Einstellungen, Motive, Geschlechterrollen und des Lebensstils betrifft. Indie ist hier insofern interessant, als es in einer Welt des "Alle gegen alle" sowohl die Bedeutung des Einzelnen und seiner Eigenständigkeit betont als auch diesem ein Aufgehen in einer gut gelaunten, erlebnishungrigen Gruppe ermöglicht. Die Autoren finden dafür den Begriff "individualisierte Vergemeinschaftung".
Ihre Arbeit macht – ob absichtlich oder zufällig, wird nicht klar – sehr schön die vielen szeneimmanenten Widersprüche deutlich. So wird von den meisten befragten Indies noch vor der Unabhängigkeit die Natürlichkeit als wichtigster Wert angeführt. Allerdings will diese Natürlichkeit hart erarbeitet sein: Die "Lässigkeit ist planvoll konstruiert, um dem natürlichen Auftreten Nachdruck zu verleihen. Demzufolge werden bestimmte Kleidungsstücke möglichst lange getragen.
Abgetragene Kleidung gilt als Betonung der Natürlichkeit (...). Dennoch ist die Kleidung nicht übermäßig beschädigt oder gar dreckig. Vielmehr bewegt sich der Stil hier auf einem schwierigen Mittelweg zwischen natürlichen Abnutzungserscheinungen und einem gepflegten Äußeren."
Neben Natürlichkeit werden auch Anstand, Harmonie und Konfliktvermeidung propagiert sowie der hohe Bildungsgrad der studentisch geprägten Indieszene angeführt. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Selbstauskünfte der Kids: "Also, wenn ich so an den Indie-Tag denke, dann ist das so: Ja, aufstehen, also nicht so spät, damit man viel zu tun also, dann erst mal sofort Computer an, Musik an, ist egal was, also, je nachdem, wie man sich dann fühlt natürlich." Bedurfte es noch einer eigenen Bankrotterklärung dieser einst so fruchtbaren und einflussreichen Szene, dann liefert diese Studie dazu erstklassiges Material.