

Der Bote mit den fremden Händen
Thomas Ballhausen in FALTER 50/2013 vom 13.12.2013 (S. 35)
Unter den vielen interessanten Comic-Neuerscheinungen ragt Quentin Vijoux' düstere Gesellschaftsfabel "Eugène" heraus
"Klingel!" – das ist die wenig missverständliche Aufforderung Jeannes an das vor ihr liegende Telefon. Sie erwartet sehnsüchtig einen Anruf ihres Verlobten Eugène, der überraschend eine neue Arbeit in der nicht näher bezeichneten "Stadt" angeboten bekommen hat. Und während Jeanne im gemeinsamen, isoliert auf einem Hügel thronenden Haus auf das erlösende Lebenszeichen wartet, rücken die Schatten des Zweifels und der Vergangenheit ihr immer näher. Denn Eugène, der höchst ambivalente Held aus Quentin Vijoux' umwerfendem Debütcomic, hat eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Geheimnissen.
Da sind etwa die per Post eintreffenden gelben Kuverts, auf denen "immer die gleiche Krakelschrift" prangt, und die ungeöffnet in eine Schublade wandern. Die mit wenigen gelungenen Strichen entworfenen Zweifel in Jeannes Gesicht begleiten Eugènes Ausflüchte und Ablenkungsmanöver. Mysteriöser noch ist der Umstand, dass dessen Handflächen Transplantate eines anonymen Spenders sind, die er in schlaflosen Nächten skeptisch betrachtet. Ihnen hat er auch besagten Job als Bote des schwer zu durchschauenden Dr. Trousseau zu verdanken.
So wie die sich überlagernden Handlinien auf ein schwer lesbares Schicksal verweisen, so weist auch das Comic selbst eine Netzstruktur mit zahlreichen Handlungssträngen auf. In ihnen begegnet der Leser etwa Marius Bouteille, der mit einem monströsen Wesen fliegende Häuser steuert und eigentlich unglücklich in eine Kellnerin verliebt ist; oder Pamphilia, dem "Mädchen vom Lande", das von allen begehrt wird und sich doch nur um ihren an der "Holzkrankheit" leidenden und sich in einen Baum verwandelnden Vater Rodin sorgt.
Alle diese Figuren und Elemente werden über Eugène zu einem tragischen Geflecht verbunden. Dass der mit der Zustellung einer der stets verschlossen zu haltenden Lieferungen auch sein eigenes Schicksal besiegelt, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Vijoux' düstere Fabel führt uns in ein beinahe menschenleeres Märchenland. Ohne die Struktur einer klassischen Panelfolge entfaltet er in leichtem, unbeschwertem Stil eine Vielzahl skurriler Einfälle und irritierender Details. Die Schwere der verhandelten Themen – Verlust, Verrat, Verzweiflung – stehen in krassem Gegensatz zum minimalistischen Stil.
Elegant und mitleidlos führt der 30-jährige, aus Paris stammende Autor/Zeichner die Story ihrem schlimmen Ende entgegen. Erst als buchstäblich alles in Schutt und Asche liegt und keiner bekommen hat, wonach sie oder er strebt, findet diese originelle Reflexion über gesellschaftliche Beziehungen ihr Ende: Nicht nur was wir voneinander wissen, prägt die Verhältnisse, sondern mehr noch, was wir verbergen.
Die spärlichen Gespräche zwischen Eugène und Jeanne, zumeist mithilfe anachronistischer Apparate geführt und von Ausflüchten gekennzeichnet, sind Ausdruck unserer Gegenwart. Die Frage "Verzeihst du mir?" bleibt unbeantwortet.