

Anarchie muss Spaß machen
Sebastian Fasthuber in FALTER 37/2011 vom 16.09.2011 (S. 36)
Kleinverlage und verlegerische Großprojekte über einen längeren Zeitraum vertragen sich aus finanziellen Gründen normalerweise nicht gut. Der Verbrecher Verlag traut sich trotzdem und beginnt eine auf 15 Bände angelegte Ausgabe der Tagebücher, die Erich Mühsam (1878–1934) von 1910 bis 1924 führte. Mühsam zählt zu den bedeutendsten Anarchisten Deutschlands. Er war an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt und saß danach fünf Jahre im Gefängnis. In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde er wieder verhaftet und im Jahr darauf von den Nazis hingerichtet.
Und doch, wenn man seine Aufzeichnungen liest, muss es ein gelungenes Leben gewesen sein. Der Sohn jüdischer Eltern, der bürgerlich aufwuchs, wollte die Welt verändern und merkte, obwohl er schon als Jugendlicher schriftstellerische Neigungen zeigte, dass Worte dafür nicht genügen würden. Es ging ihm um die Anarchie in der Praxis, um ein Leben ohne spießbürgerliche Moral. Wie er das durchzog, darüber führte er akribisch Buch. Was einen sofort reinzieht in die Tagebücher, ist Mühsams selbstverständliches Vermischen von Politischem und Privatem. Bei aller Überzeugung, dass ein Leben außerhalb der Gesellschaft möglich sei, kommt auch das Gesellschaftliche – in Gestalt von Klatsch aus der Münchner Bohème – nicht zu kurz. Wenn Mühsam zufällig einmal ein bisschen Bares in der Tasche hatte, haute er es umgehend mit Künstlerfreunden und hübschen Mädchen auf den Kopf.
Seinem Namen wird er in diesem Band überhaupt nicht gerecht. Seine Überzeugungen ließen ihn nicht stur werden, der Ton ist trotz Geschlechtskrankheiten und ständiger Geldsorgen meist ein gut gelaunter. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass Mühsam das Tagebuch nur zu seiner eigenen Unterhaltung schrieb und nicht an eine Publikation dachte. 100 Jahre danach freut man sich über seine ungeschönten Formulierungen – und atmet mit ihm auf, als sein Tripper endlich ausgeheilt ist: "Der Arzt meint, ich könne mit Maßen wieder anfangen, Alkohol zu trinken und in der nächsten Woche, falls bis dahin alles günstig bleibt, auch schon koitieren. Wie ich mich danach sehne!"