

Den Epilog konnte sie nicht mehr schreiben
Tessa Szyszkowitz in FALTER 27/2025 vom 04.07.2025 (S. 17)
Wenn eine Schriftstellerin ein Vorwort von Margaret Atwood geschrieben bekommt, dann muss es sich schon um einen sehr speziellen Fall handeln. Die hellsichtige 85-jährige Ikone der feministischen und dystopischen Literatur -"Der Report der Magd" - hat sich nicht umsonst Zeit für Victoria Amelina genommen. Denn das Buch der ukrainischen Schriftstellerin "Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick" ist posthum erschienen. Amelina starb am 1. Juli 2023 an den Verletzungen, die sie bei einem russischen Bombenangriff auf Kramatorsk erlitten hatte. "Krieg ist nichts Statisches, er fließt", schreibt Atwood, "er zerstört und wischt alles weg, was ihm in den Weg kommt, er lässt viele untergehen."
So wie die 37-jährige Autorin Victoria Amelina. Sie galt schon vor dem Krieg als eine der talentiertesten literarischen Stimmen ihrer Generation in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 aber, mit Beginn der russischen Invasion, wechselte sie den Job. "Dieses Buch begann als Kriegstagebuch einer ukrainischen Schriftstellerin", schreibt sie. "Sie wurde zur Beobachterin von Kriegsverbrechen. Es wurde zur Geschichte einer Reihe außergewöhnlicher Frauen."
"Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick" ist nicht nur eine Dokumentation, es ist auch ein literarisches Erlebnis. Ein Sammelsurium aus eigenen Tagebucheinträgen und Texten, aber auch ein Gespräch, das sie auf dem Buch-Festival 2022 in Lemberg mit dem britischen Rechtsanwalt und Autor Philippe Sands über den Begriff Genozid führte. Im Anhang gibt es Listen von Kriegsverbrechen, die sie und das Team vom "Center for Civil Liberties" dokumentiert haben. "20.03.2023: Kyiv-Kharkiv-Balakliya-Straße: 1. Einen Arzt interviewt, der von einem Vergewaltigungsfall berichtete. Namen und Hintergrund und andere Details der Vergewaltiger sind bekannt. 2. Beim ukrainischen SES (Notfallhilfe, Anm.) nach den Kontaktdaten gefragt und sie bekommen."
Ein Kapitel ist Jewhenija Sakrewska gewidmet, einer Rechtsanwältin, die schießen lernte, um für ihr Land in den Krieg zu ziehen. "Schießübungen wurden Teambildungs-Maßnahmen", schreibt Amelina.
In einem anderen Kapitel tritt Julija Kakulja-Danyljuk auf, die Bibliothekarin der "hingerichteten Bibliothek" im Dorf Kapytoliwka. Nicht nur die Bibliothek wurde zerstört. Entführt, gefoltert, ermordet wurde auch der landesweit bekannte Kinderbuch-Autor Wolodymyr Wakulenko. Sowohl die Bibliothekarin als auch der Schriftsteller hatten Tagebuch geführt. Wakulenko hatte seines noch im Garten vergraben. Victoria Amelina fand es dort. Das Original, das er sorgfältig in Plastikfolie gewickelt hatte, übergab sie dem Literaturmuseum in Charkiw. Die letzte Eintragung stammt vom Tag seiner Verhaftung am 21. März 2022: "Ich glaube an den Sieg!"
Auch Victoria Amelinas Schreiben und ihr Leben rissen plötzlich ab. Sie saß in einer Pizzeria in einem Einkaufszentrum, als eine russische Bombe einschlug. Gemeinsam mit Margaret Atwood setzt sich Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matviichuk dafür ein, dass die junge Autorin nicht vergessen wird. Amelina hat schließlich für Matviichuks "Centre for Civil Liberties" all diese Kriegsverbrechen dokumentiert.
Die fehlenden 40 Prozent des Buches haben die Herausgeberinnen, darunter Tetyana Teren von PEN Ukraine, mit Feldforschungsstudien, älteren Notizen und Fragmenten ergänzt. So ist "Blick auf Frauen. Den Krieg im Blick" ein Denkmal geworden. Für eine Frau, die versuchte, mit der Kraft von Worten über die Gewalt zu siegen.
Die Rezensentin bekam dieses Buch von Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matviichuk überreicht: "Wir dürfen Victoria nicht vergessen"