

"Futuromania": Als Musik noch die Zukunft anpeilte
in FALTER 28/2023 vom 14.07.2023 (S. 30)
Simon Reynolds (Jg. 1963) haut am laufenden Band Standardwerke raus. In "Sex Revolts" schrieb er -zusammen mit Joy Press -aufschlussreich über Gender, Rock und Rebellion. Mit "Rip It Up and Start Again" lieferte er eine minutiöse Nachzeichnung der Ära des Postpunk um 1980. In "Glam" feierte er den Glitzer im Pop der 1970er und Künstler wie David Bowie.
Sein wohl einflussreichstes Werk ist aber "Retromania", das im englischsprachigen Original 2011 erschienen ist. Er konstatiert darin, dass Pop nicht mehr von seiner Vergangenheit loskomme und sich in ein Museum verwandelt habe. Reynolds ist als Musikjournalist ein echter Glücksfall, weil er zugleich obsessiv und sachlich agiert. Er kann gut Zusammenhänge erklären und hat einen nüchternen Stil, der nicht vom Inhalt ablenkt.
Nun liegt ein Gegenstück zu "Retromania" in deutscher Übersetzung vor. "Futuromania" versammelt Texte über Musik, die zu ihrer Entstehungszeit jeweils die Zukunft vorausahnte. Reynolds konzentriert sich auf elektronische Stile der letzten fünf Jahrzehnte.
Es beginnt mit dem Disco-Urknall: Donna Summers "I Feel Love", produziert von Giorgio Moroder und Pete Bellotte. Von da geht es in die frühe Ära des House und Techno in Chicago und Detroit, zurück zu langhaarigen, kosmischen Synthesizer-Hippies in Deutschland oder in die 1990er, als immer aggressivere Techno-und Breakbeat-Abwandlungen entstanden.
Manche Innovationen veränderten die ganze Popmusik - die zuckenden Beats von Timbaland etwa oder der Autotune-Effekt in Chers Hit "Believe"(1998) -, andere blieben auf kleine Szenen beschränkt. Als Aufnahmekriterium galt, "dass diese Tracks trotz der verstrichenen Zeit weiterhin eine beeindruckende Faszination ausüben".
Das Buch lädt zum Wiederhören und Entdecken revolutionärer Stücke an - aus Zeiten, als die Musik noch die Zukunft angepeilt hat.