

Marvin Gaye, Abba, Throbbing Gristle: Internetsurfen wie damals als Buch
Sebastian Fasthuber in FALTER 1-2/2025 vom 10.01.2025 (S. 28)
Mit "Dreh den Mond um" gibt Falter-Cartoonist und Ingeborg-Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz nach einigen Jahren Funkstille sein Comeback als Autor. Eines sei vorweggeschickt: Wer in das Buch eintritt, lasse alle Hoffnung auf eine zuverlässige, nachvollziehbare Handlung fahren.
Bereits auf der ersten Seite erweist sich der Ich-Erzähler als ein Mann mit extremer, verzerrter Wahrnehmung. Er leide unter "Bozeman's Simplex", behauptet er, einer "positiven Entzündung der Retina". Diese bewirkt: "Ich kann etwa 25 Mal mehr sehen als andere Menschen." Die Welt offenbart sich ihm als optische Kakofonie. Eine Besserung erhofft sich sein Arzt von einem Aufenthalt im belgischen Ostende, wo Anfang der 1980er der von Dämonen geplagte US-Soulsänger Marvin Gaye lebt.
Bei Muscheln und Fritten lernen sich die beiden in einem Lokal kennen - und schreiben gemeinsam den Text zu "Sexual Healing", Gayes letztem Welthit: "Baby, I'm hot just like an oven ...". Das ist natürlich hemmungslos geflunkert, wie auch die erwähnte Krankheit erfunden ist. Bozeman's Simplex war eine obskure Stoner-Rock-Band aus Schweden.
Immer wieder googelt man parallel zur Lektüre Namen hinterher. Schnell verliert man sich in einem Gewirr aus genial-exzentrischen Musikern, ihren oft tragischen Lebensläufen und überraschenden Querverbindungen zu Schlagersängerinnen oder Erotikmodels der 1970er.
So funktioniert auch das Buch: In London unterhalten sich 1980 die dem Lärm zugetanen Industrialmusiker von Throbbing Gristle völlig unironisch über ihre Liebe zu Abba. Immer dabei ist der Ich-Erzähler, der durch Zeit und Raum reist.
"Dreh den Mond um" erinnert an das gute, alte Internetsurfen vor 25 Jahren. Das liest sich so gewitzt wie anspielungsreich, wobei es praktisch unmöglich ist, sämtliche Namen und Verweise zu kennen -sofern man nicht Tex Rubinowitz heißt. Der ideale Leser dieses Buches ist sein Autor. Dem Rest bleibt nur Staunen. Und ein stets offenes Browser-Fenster als Gefährte.