

Was Pflanzen den Menschen voraushaben
Julia Kospach in FALTER 11/2016 vom 18.03.2016 (S. 47)
Essen: Zwei neue Bücher erzählen von Geschmackskultur, Lebensmittelzukunft und dem nachhaltigen Umgang mit Pflanzen
Bei Stefano Mancuso und Carlo Petrini handelt es sich um Schwergewichte: Mancuso leitet das Internationale Laboratorium für die Neurobiologie von Pflanzen in Florenz und gilt weltweit als der Experte zum heiß diskutierten Thema Pflanzenintelligenz. Carlo Petrini ist Gründer und Präsident der Slow-Food-Bewegung sowie des internationalen Agrarnetzwerkes Terra Madre. Die beiden trafen sich an der von Petrini gegründeten Università di scienze gastronomiche im Piemont, um über Geschmackskultur, Lebensmittelzukunft und nachhaltigen Umgang mit Pflanzen zu diskutieren. Im schmalen Büchlein „Die Wurzeln des guten Geschmacks“ sind diese Gespräche aufzeichnet.
Sie bedeuten vor allem eine Zurechtweisung der Überzeugung des Menschen, der „Mittelpunkt der belebten Welt“ zu sein, und ein Plädoyer dafür, endlich zu lernen, sich „als ein Element im Ökosystem“ zu begreifen. Mancuso/Petrini diskutieren umweltverheerende Anbaumethoden, Pflanzengemeinschaften als unterschätzte Vorbilder für innovative, flachhierarchische Kooperationssysteme oder das Nachdenken über Landwirtschaft, Geschmack und Ernährung als ökologischen und politischen Akt.
Vor allem wehren sie sich zu Recht gegen den häufig gehörten Vorwurf, Sozialromantiker zu sein bzw. sich mit einem exotischen Gebiet der Biologie, der Pflanzenintelligenz, zu befassen. Pflanzen, so Mancusos Argument, seien deswegen so wenig geachtete Lebewesen, weil sie „in anderen Zeiträumen agieren als wir“ und ihre Organismen aufgrund ihrer sesshaften Lebensweise vollkommen anders funktionieren.
Sie bestehen aus mehrfach vorhandenen Modulen, während der Mensch ein vom Hirn aus zentralistisch und hierarchisch gesteuertes Wesen ist. Diese Struktur, so Mancuso, spiegele sich in allem wider, was der Mensch erschaffe, sei allerdings aufgrund ihres zentralistischen Aufbaus äußerst fragil.
Für die Bewältigung der komplexen Fragen der Gegenwart brauche es anders organisierte Strukturen. Das derzeit alles bestimmende Netzwerk des Internet sei etwa eher wie ein pflanzlicher Organismus aufgebaut. „Wenn wir eine widerstandsfähige Gesellschaft und eine sichere Zukunft haben wollen, sollten wir uns besser die Bau- und Funktionsweise der Pflanzen zum Vorbild nehmen.“
Mancuso und Petrini sind selbstbewusste und sprachmächtige Verteidiger einer Kultur der Vielfalt: in Küche und Landwirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das untermauern ihre Thesen mit einer Vielzahl von Argumenten. So sollte es in unserem ureigensten Interesse sein, Pflanzen mehr Wertschätzung entgegenzubringen und ihre Rechte besser zu wahren. Schon allein deswegen, weil die Gesamtheit aller Pflanzen 99,7 Prozent der auf der Welt vorhandenen Biomasse ausmacht, ein Beweis für den enormen evolutionären Erfolg ihrer Überlebens- und Anpassungsstrategien.
Sucht man nach weiteren Beweisen für Mancusos und Petrinis Überzeugung, dass Landwirtschaftsprodukte und kulturelle Entwicklungen einander nachhaltig beeinflussen, dann sei Brill Price’ neues Buch „Zucker, Dattel, Kaviar“ empfohlen. Auch wenn die Zusammenstellung der 50 Lebensmittel – von Mammut bis Kartoffel, von Spartanischer Blutsuppe und Frankfurter Würsteln bis zu Soja – seltsam disparat wirkt, so ist doch all diesen Produkten gemeinsam, dass sie Einfluss auf die Geschichte oder gesellschaftspolitische Entwicklungen nahmen, im Positiven wie auch im Negativen.
Beispiele gefällig? Keine Erfindung des revolutionären Agrarsystems der Vierfelderwirtschaft ohne die Steckrübe. Keine gigantische Hungersnot in Irland um 1850 ohne den fast ausschließlichen Anbau von Kartoffeln. Oder: der Roquefort als extrem frühes Beispiel für den heute so weit verbreiteten gesetzlichen Schutz regionaler Produkte und ihrer Namen.
All diese Phänomene lassen sich über einzelne Lebensmittel besser verstehen. Es wird Zeit, ihnen und den Umständen ihrer Herstellung die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, statt über das Prinzip Nachhaltigkeit zu spotten und die Lebensmittelproduktion weiter unbeteiligt in Richtung industrielle Fertigung ziehen zu lassen.