

Architektur als Hilfe für gutes, sinnerfülltes Leben
Sebastian Kiefer in FALTER 43/2022 vom 28.10.2022 (S. 28)
Im März 2020 raffte Covid-19 den für seinen Ideenreichtum und seine umfassende Neugier berühmten New Yorker Architekten, Stadtplaner und Kritiker Michael Sorkin im Alter von 71 Jahren dahin. Ein Architekt war für Sorkin nicht jemand, der Behausungen herstellt, sondern einer, der den Menschen hilft, ein gutes, sinnerfülltes Leben führen zu können: Architektur zu reflektieren hieß für ihn, über den Menschen im Rahmen der Naturgesetze zu reflektieren.
Er wollte Lebensorte leibhaftig erleben, um den Sinn für Raum, Farbe und Geräusche zu schulen.
Die wunderbare Idee seines letzten Büchleins war es, diese Utopie des gleichermaßen universal gebildeten wie sinnesfreudigen und philanthropischen Bau-Denkers in eine Art Zettelkasten von 250 Dingen zu bringen, die ein Architekt kennen oder wissen sollte. Manchmal ist es ein Satz, manchmal auch nur ein Wort. "Das Gefühl von kühlem Marmor unter nackten Füßen" zum Beispiel sollte ein Architekt kennen. Gefolgt von: "Wie man mit fünf Fremden sechs Monate lang in einem kleinen Raum zusammenlebt."
Die Bauformen von Kristallen und die Zugmuster von Singvögeln zu studieren war für Sorkin ebenso unerlässlich wie Shakespeare gelesen und einmal möglichst mit eigenen Händen einen Ziegelstein verbaut zu haben. Er entwirft eine Philosophie der Ecke ("Wie man um die Ecke biegt, eine Ecke gestaltet, in einer Ecke sitzt"), erklärt den Wasserkreislauf in den Anden sowie Vastu (eine Art indisches Gegenstück zu Feng-Shui). Und er überlegt, wie sich Räume und Städte kindgerecht gestalten lassen: "Welches Steigungsverhältnis von Treppen für ein sechsjähriges Kind bequem ist." Die "250 Dinge" kombiniert er mit Fotografien und Gebrauchsgrafiken, historischen Stichen und Plänen.
Es ist ein unaufdringlich romantisches Buch: Anstatt ein imposantes Lehrgebäude zu formulieren, schickt es den Leser mit kleinen Notaten auf Reisen -auf dass jeder den virtuellen Architekten in sich entdecken möge.