

Na gut, dann geh ich eben 2329 Kilometer
Gerlinde Pölsler in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 28)
Zu seinem 40. Geburtstag reist Martin Zinggl gerade durch Vietnam, als ihm aus dem Spiegel ein schiefes Gesicht entgegenschaut: Die rechte Hälfte hängt herunter. Nach der Rückholung nach Wien wird ihm beschieden: Gesichtslähmung, er brauche dringend Ruhe.
Das ist Zinggl nicht gewöhnt: Zwei Jahrzehnte lang bereiste er als Ethnologe, Filmemacher und Reporter 100 Länder, lebte in manchen. Gehen war für Zinggl immer schon "ein Medikament", also vielleicht weitwandern? Doch er will nicht mit Horden von Touristen latschen.
Sicher nicht passieren wird das auf dem "Sultans Trail" von Wien nach Istanbul: 2329 Kilometer, acht Länder, sieben Grenzen. 1529 nahm Sultan Suleyman den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Das aus Zinggls Unterfangen entstandene Buch besticht durch die Selbstironie des Autors und die vielen Gespräche, auf die der leidenschaftliche Reporter nicht verzichtet.
Zinggl sieht sich selbst dabei zu, wie er nicht nur geografische Grenzen überschreitet: Die Füße brennen, er ist hungrig und dreckig. Hitze, gefährliche Hunde. Er schläft in Kellern, einem Theater und auf einer Kommode. Immer wieder Warnungen vor dem nächsten Land: Slowakinnen, heißt es, seien schön, aber gefährlich -womöglich wache man "mit einer Niere weniger auf". In Ungarn wiederum seien "zappzarapp" die Schuhe weg, wenn man die wo stehen lässt. Sagen die Slowaken.
Die Balkanroute in die andere Richtung gehend, ist Zinggl das Privileg, EU-Bürger zu sein, sehr bewusst. Dennoch bringen Grenzen auch ihn ein paar Mal ins Schwitzen, etwa als er in Viktor Orbáns berühmtem Grenzzaun ein offenes Tor entdeckt und durchgeht. "Eine Falle? Wann nehmen die mich hops?"
Nach 102 Tagen ist Zinggl da. Die Tränen fließen. "Why is it so hard?", las er einmal in einem verzweifelten Moment an eine Mauer gesprüht und musste lachen: "Weil es sonst nichts wert wäre! Weil es sonst keine Geschichte wäre!"