

Dunkle Gassen, heller Kopf
Gerlinde Pölsler in FALTER 42/2025 vom 15.10.2025 (S. 27)
ien 1922. Philomena Freud ist 14 und ein Schuhputzmädchen. Ihren Nachnamen hat sie sich einfach selbst gegeben – immerhin putzt sie vor der Ordination von Professor Sigmund Freud. „Beim Depperldoktor?“, fragt ein Bauer sie. „Wo die vornehmen Fräuleins hingehn, die wo sonst keine Probleme ham?“ „Beim berühmten Nervenarzt“, korrigiert Philomena ihn. Zu dem kommen lauter reiche Leute, und die lassen sich dann gern von ihr die Schuhe putzen, gleich volles Programm. Nebenbei gibt Philomena ihnen manchmal bessere Tipps als der berühmte Doktor. Außerdem kriegt sie da einiges mit, was in der Stadt so passiert – und das kommt ihr recht, interessiert sie sich doch sehr für die Verbrechen, die in der Stadt passieren.
„Frag Philomena Freud: Die Perlenspinne“ ist der erste Band einer neuen Krimireihe von Annette Roeder, Erschafferin der „Krumpflinge“. Das meiste in diesem lebendigen Kinderroman spielt sich auf Wiens Gassen und Hinterhöfen ab, ist Philomena doch ein Waisenmädchen und Teil einer Straßenkindergang.
Kern der Story: Die Baronin Wallersee ist umgebracht worden, angeblich von ihrem Mündel Sidonie; beide waren Patientinnen Sigmund Freuds. Philomena ist außer sich, als sie das hört. Ihr Freund August versteht die Aufregung nicht. Da habe halt anscheinend „eine reiche Schnepfe ihre Vormundin abgekragelt. […] Endlich ist mal kein armer Wicht aus der Gosse der Schuldige, sondern eine von denen da oben!“ Aber Philomena kannte die Baronin und auch ihr Mündel Sidonie, die wie sie aus dem Waisenhaus kommt – und ist sich sicher: Das ist unmöglich. Sidonie kann nicht die Mörderin sein. Nicht nur, weil sie dafür viel zu sanftmütig ist – Philomena hat außerdem bei einem Besuch Sidonies bei Freud etwas aus dem Behandlungszimmer gehört, das beweist, dass sie nicht die Täterin sein kann.
Für den Krimi hat Annette Roeder – keine Wienerin, sondern eine Münchenerin – in der städtischen Geschichte recherchiert: Das Waisenhaus auf der Hohen Warte spielt ebenso eine Rolle wie „die Liesl“, das Polizeigebäude samt Gefängnis an der Rossauer Lände. Und das Bilderbuch „Von Spinnen und Ameisen“ von Freuds Patientin Emma Eckstein, das im Freud-Museum ausgestellt ist.
Aus Wiens Kinderheimen ist heute bekannt, dass die Kinder dort wie Gefangene gehalten wurden, Schläge und Sadismus waren gang und gäbe. Philomena, im Buch der ehemalige „Zögling Nummer 34“ und aus der Hohen Warte abgehauen, erzählt auch davon ganz nebenbei. Von Watschen, eiskalten Duschen und davon, in den Keller gesperrt zu werden, begleitet vom Satz: „Da bleibst du, bis dich die Spinnen von der Sohle bis zum Scheitel eingesponnen haben, und dann saugen sie dich aus.“ Nach und nach kommt heraus, was das mit der titelgebenden Perlenspinne zu tun hat.
Seit Philomena von der Hohen Warte weg ist, ist die Sprengelfürsorgerin Schnürschuh hinter ihr her – und erwischt sie tatsächlich eines Tages. Zurück geht’s ins Heim und in den Kohlenkeller. Was die Erwachsenen nicht wissen: Die früheren Zöglinge – viele wurden als billige Arbeitskräfte angeheuert – bleiben einander treu verbunden. Lauter Überlebenskämpfer, in ganz Wien verstreut, die einander helfen. Und so entkommt Philomena ein zweites Mal.
Annette Roeder hat Orte und Szenen detailreich ausgeschmückt, und die Figuren reden schönstes Weanerisch. „Oar! ’s Stück zu 1650 Kronen!“, ruft ein Bauer über einem Stapel Eierkartons. Der eine macht „Spompanadeln“, die andere ist „angfressen“. Und aus den Tunneln der stillgelegten Dampfstadtbahn vertreibt ein Mann die verhasste Schnürschuh mit den wirksamen Worten: „Geh weida, du Schaßtrommel! Sonst kimm i wirkli aussi.“
Klar, dass Philomena nicht nur einmal im Schlamassel sitzt. Klar auch, dass sie den Fall am Ende löst – auch wenn ihre Menschenkenntnis sie ein einziges Mal gröblich verlässt.
Ein paar Rätsel aber lässt die Geschichte bis zum Ende offen. Kennen Philomena und Sidonie einander vielleicht schon von früher? Was ist da los mit der belgischen 10-Centimes-Münze, die Philomena um den Hals trägt, das Einzige, was ihre Mutter ihr hinterlassen hat? Wie von der Autorin zu hören ist, wird die Kupfermünze mit dem Loch in der Mitte in dieser Krimiserie noch eine wichtige Rolle spielen.