Die Opferfalle

Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
126 Seiten, Hardcover
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ISBN 9783957571502
Erscheinungsdatum 01.12.2015
Genre Philosophie
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Übersetzung Max Henninger
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MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
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Kurzbeschreibung des Verlags

Gedenktag für die Opfer des Holocausts, Gedenken an die Bombardierung Dresdens, Gedenktag der Kriminalitätsopfer, Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, Tag der Wohnungslosen, Volkstrauertag: Die Liste der Opfergruppen und der öffentlich begangenen Gedenkstunden wird immer länger, und auch »Täter« wollen nun »Opfer« sein, wie im Historikerstreit zum ersten Mal deutlich wurde. Doch wie konnte es dazu kommen, dass solche grotesken Phänomene wie Opferstolz, Opferkonkurrenz und gar Opferneid um sich greifen? Fernab aller Schlussstrichdebatten erörtert Daniele Giglioli, wie sich die Opferrolle in der gesellschaftlichen Diskussion zu einer politischen Trumpfkarte und entscheidenden Ressource gewandelt hat, mit der Identitätskollektive um Anerkennung und Reparationen kämpfen. Giglioli zeigt auf, welche fatale Dynamik eine Gesellschaft erfasst, die sich bald vollständig in Schuldige und Unschuldige teilt und in der das vergangene Leid erinnert werden muss. Ein ebenso überfälliger wie provokanter Debattenanstoß von bohrender Exaktheit, eine scharfsinnige Kritik der Opferfalle, die nicht zuletzt den Opfern selbst schadet.

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FALTER-Rezension

„Es gibt kein Anrecht auf ein kränkungsfreies Leben“

Klaus Nüchtern in FALTER 23/2017 vom 09.06.2017 (S. 28)

Der Psychoanalytiker Rainer Gross über die Schattenseiten des Opferdiskurses und der Identitätspolitik

Jeder kennt Menschen, die sich stets ins Unrecht gesetzt und unfair behandelt fühlen: der ekelhafte Chef, die hinterfotzige Kollegin, der unsensible Lebensgefährte, die egoistischen Geschwister, die lieblosen Eltern – alle haben sie sich verschworen und verweigern ihm oder ihr die verdiente Wertschätzung. Die Grenze zwischen berechtigter Empörung und selbstgerechter Larmoyanz mag fließend sein, insgesamt aber kann man sagen, dass die Virtuosen der permanenten Beschwerdeführung nerven wie die Hölle.
Auf der persönlichen Ebene ist das, solange sich die Gekränkten nicht in Attentäter verwandeln, ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem: Man hat dann leider gerade sehr viel zu tun und keine Zeit für Gespräche mit zu viel Rotwein. Gesamtgesellschaftlich betrachtet kann sich der Anspruch auf ein kränkungsfreies Dasein aber fatal auswirken, weil er Populisten und Fundamentalisten die Chance eröffnet, Ressentiments zum Hebel ihrer Politik zu machen.
Das folgende Gespräch fand in der Praxis des Psychoanalytikers Rainer Gross auf der Wieden statt. Neben der obligaten Couch gibt es dort auch einen Bibliothek, und mitunter zieht Gross ein Buch heraus, um ein Zitat nachzuschlagen. Auch der Falter-Journalist hat etwas zum Thema mitgebracht: einen kleinen Text von Robert Musil.

Falter: Herr Gross, Gekränktheit scheint zu einer politischen Leitwährung geworden zu sein. Sind die Menschen empfindlicher geworden?
Rainer Gross: Ich glaube schon, dass wir spätestens jetzt die Schattenseite des Opferdiskurses zu sehen bekommen. Dass ich aus dem Opferstatus einen moralischen und manchmal auch ökonomischen Anspruch ableiten kann, ist ja eine relativ junge Entwicklung. Der amerikanische Historiker Peter Novick hat gezeigt, dass die großen jüdischen Organisationen der USA bis in die 70er-Jahre die Schoah eher tiefer gehängt haben, weil sie nicht wollten, dass die Juden in der Öffentlichkeit als hilflose Opfer dastehen. Das hat sich später gedreht, und keiner weiß so genau, warum.

Würden Sie sagen, dass der Opferdiskurs auch eine Konkurrenz produziert, nach dem Motto: Wer ist der Ärmste?
Gross: Die gibt es natürlich. Der Trauma-Diskurs tut so, als ob alles psychische Leid posttraumatisch wäre: „Kränkung macht krank“ lautete der berühmte Spruch von Erwin Ringel. Das ist in dieser Allgemeinheit sicher falsch, aber super angekommen, denn darunter kann sich jeder was vorstellen.

Mit der Folge, dass Universitäten ihre Leselisten mit „trigger warnings“ ausstatten: Vorsicht, diese Lektüre kann Ihre psychische Gesundheit gefährden!
Gross: In England hat die Tierschutzorganisation PETA (People for the the Ethical Treatment of Animals, Red.) sogar gegen eine Trickfilmserie Einspruch erhoben, in der die Helden Pelzmäntel tragen. So viel zu dem, was der deutsche Philosoph Odo Marquard „die Penetranz der Reste“ genannt hat.

Was ist damit gemeint?
Gross: Dass unter der Voraussetzung genuiner Liberalisierungsgewinne das Erregungspotenzial bei geringfügigen Anlässen zunimmt. Ich möchte heute auch kein junger Schwuler in Reims oder Attnang-Puchheim sein, aber im Vergleich zu früher ist es besser geworden. Wir hatten Ende der 70er-Jahre in unserer Initiative „Demokratische Psychiatrie“ einen Vorzeigepatienten; einen netten, einfachen, etwas hysterischen Friseur, der halt schwul war am Land und nur deshalb jahrelang in der Psychiatrie gesessen ist. Das ist heute undenkbar.

Wie ist das nun mit dem erschöpften Selbst: Nehmen die psychischen Belastungen und Erkrankungen zu?
Gross: Alles halb so wild. Was zunimmt, ist die Sensibilität und Bereitschaft, etwas als Krankheit zu klassifizieren und nicht als moralisches Versagen. Und was schließlich auch zunimmt, ist die Wahrscheinlichkeit, Gehör und vielleicht sogar Hilfe zu bekommen, wenn ich mich selbst etikettiere. Das erfolgreichste Etikett der letzten Jahre war zweifelsohne das Burn-out, denn das funktioniert nach dem Prinzip „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“: Ich bin nicht krank, brauche aber alle Schonung der Welt.

Ist das nicht etwas zynisch?
Gross: Finde ich nicht. Die Soziologen haben immer darauf hingewiesen, dass ich in der Patientenrolle einige meiner Rechte aufgebe und dafür andere bekomme: Selbstbestimmung wird gegen Schonung eingetauscht. Ein bisschen ist die Sache mit der Kränkung der Versuch, beides zu kriegen: volle bürgerliche Freiheitsrechte als hochkränkbares Subjekt bei gleichzeitiger Schonung als Patient.

Aber was soll man tun? Den Leuten sagen, dass sie ein bisserl weniger wehleidig sein sollen?
Gross: Meine Mutter hätte gesagt: „Lerne klagen, ohne zu leiden.“ Aber im Ernst: Dass Opfer Rechte haben und diese auch einmahnen, ist einerseits natürlich ein immenser Fortschritt, andererseits aber auch eine ungeheure Versuchung, sich primär oder ausschließlich über den Opferstatus zu definieren. Und wenn das nicht Individuen, sondern Gruppen tun, dann wird’s heiß. Putin fährt bestens damit, und dass das auch ein Alpha-Vieh wie Trump tun kann, hätte noch vor zehn Jahren doch niemand geglaubt!

Die Schnelldiagnose zu Trump lautet auf maligne narzisstische Störung. Ist das aus Sicht des Analytikers überhaupt seriös?
Gross: Das ist so ähnlich wie mit dem Gebrauch des Wortes „schizophren“ im öffentlichen Diskurs. Was können die armen Patienten dafür? Trump ist einfach ein Arschloch!
Ist Narzissmus denn per se schlecht?
Gross: Das war eine der großen Debatten der 80er-Jahre: Heinz Kohut versus Otto Kernberg. Für Kernberg ist Narzissmus pfui, für Kohut etwas Natürliches, das ich eigentlich hegen muss: Solange es genügend Glanz im Mutterauge gibt, wird jeder gut. Das ist verkürzt, aber durchaus nicht nur gehässig gesagt. Kernberg hat sich weitgehend durchgesetzt und deckt sich hier auch mit Freud: Der Mensch ist nicht nur gut.

Das ist genau das, was die „Opfer-Ideologie“, wie der Publizist Daniele Giglioli sie nennt, bestreitet: Sie stilisiert den Makel realer Ohnmacht zum moralischen Mehrwert, so, als wäre es wünschenswert, ohnmächtig zu sein.
Gross: Es gibt Menschen, die ganz Furchtbares erlebt haben, aber nachgerade außerstande sind, sich als Opfer zu empfinden. Wenn man denen sagt: „Das muss doch schrecklich gewesen sein?!“, dann antworten die: „Na, angenehm war’s ned.“ Auf der anderen Seite des Spektrums finden wir diejenigen, an deren Unglück der Chef und die Eltern, Gott und die Welt schuld sind. Das ist aber ein Wahrnehmungsrahmen, und wenn ich 30 Jahre lang alles durch diesen betrachtet habe, finde ich die nächste Kränkung unter Garantie.

Im Englischen gibt es dafür die leicht larmoyante Formel: „That’s not fair!“
Gross: Das ist ein hochemotionaler Ausbruch. Gleich danach kommt: „Why me?!“ Immer, wenn ihm was nicht passt, schreit die Comicstrip-Figur Calvin: „Why me?!“ Worauf Hobbes ihm einmal ganz cool antwortet: „Why not?“

Wolf Haas hat in „Das Wetter vor 15 Jahren“ die „Fair-Frechheit-Linie“ beschrieben: Sie scheidet jene, die es „eine Frechheit“ finden, wenn ihnen
was zuwiderläuft, von jenen, die es als „unfair“ betrachten.
Gross: Die „Frechheit“ ist der Anfang der Straße, die zu Ressentiment und Hass führt, wohingegen das „Nicht-Fair“ zur Kränkung und letztendlich zur depressiveren Position führt.

Was ist gesünder?
Gross: Das ist eine gute Frage, auf die das Sinowatz-Theorem zutrifft: Es ist alles sehr kompliziert. Mit einem hatte Freud aber sicher recht: Es gibt weder ein Anrecht noch eine realistische Hoffnung auf ein kränkungsfreies Leben. Der Wunsch danach ist verständlich und völlig legitim, aber die Antwort, die meine Elterngeneration gegeben hätte, hat schon was für sich: „Auf wos hinauf?!“ Mir ist zu Hause auf durchaus kränkende Weise klargemacht worden: „Schau, Leute, die besonders schön, gscheit oder lieb sind, haben darauf vielleicht ein Anrecht – du aber ned!“ Das war sicher schwarzpädagogisch, hatte aber den Vorteil, dass man nur bedingt damit gerechnet hat, auch zu kriegen, was man sich wünscht.
Der Vorwurf der „Frechheit“ bleibt auf einer persönlichen Ebene, wohingegen jener der mangelnden Fairness …
Gross: … die Anrufung eines höheren Dritten darstellt, eines Gesetzgebers oder Gottes.

Die Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig hat in der Zeit Kritik daran geübt, dass man sich heute nicht mehr zu wehren lernt, sondern bloß weiß, wo und bei wem man sich beschweren muss.
Gross: Das kann auch ein zivilisatorischer Gewinn sein: Ich hau dem anderen nicht gleich in die Gosch’n, sondern zeige ihn stattdessen an. Wenn ich aber nur mehr dieses Register beherrsche und in der Opferrolle verbleibe, wird es problematisch, weil die funktionalisiert werden kann und zwar, wie uns Donald Trump gelehrt hat, sogar durch die Starken und Mächtigen, die sich als gekränkte Opfer gerieren.

Stellt sich bloß die Frage, ob das Muster neu ist?
Gross: Sicher nicht. Schon die Volkstribunen der späten römischen Republik haben sich seiner bedient. Die stammten aus der oberen Mittelschicht, wie wir heute sagen würden, und haben sich mit der Plebs verbündet. Jörg Haiders „Sie sind gegen mich, weil ich für euch bin“ geht in eine ganz ähnliche Richtung. Populistische Politik funktioniert immer über Exklusion, wobei sich natürlich die Frage stellt, ob Gruppenzusammenhalt nicht immer über Ausschlussmechanismen hergestellt wird. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ setzt ja auch voraus, dass andere nicht dazugehören.

Die sogenannte „Vranitzky-Doktrin“ hat erfolglos versucht, die FPÖ zu schwächen, indem man jede Zusammenarbeit ausschloss. Wenn Christian Kern nun F-Wähler zurückholen will, muss er diesen signalisieren, dass er sie nicht verachtet.
Gross: Das hat letztendlich Hillary Clinton das Präsidentenamt gekostet. Die hat ziemlich knapp vor der Wahl die Trump-Wähler als „deplorables“ bezeichnet. Das sind die Menschen, die bedauernswert sind – in Wien würde man sagen: „Potscharter“. Die Leute spüren die Verachtung, die auch die Sozialdemokratie in Europa für die sogenannten „richtigen Hackler“ gehegt hat, aber ganz genau. Da haben Tony Blair und Gerhard Schröder viel verbrannte Erde hinterlassen, und Martin Schulz oder Christian Kern bemühen sich jetzt um Wiedergutmachung.

Kränkung und Anerkennung sind so etwas wie die Schlüsselbegriffe der Gegenwart?
Gross: Man kann damit fast alle Diskurse bestreiten, und wenn man sich dann noch traut, den haltlos inflationierten Trauma-Begriff dazuzunehmen, wird’s auch politisch höchst brisant.

Vamik Volkan, der Einsichten der Psychoanalyse auf ethnische Konflikte angewandt hat, spricht ja auch vom „gewählten Trauma“.
Gross: Genau. Und schon sind wir bei der Rede, die Slobodan Milošević im Juni 1989 am Amselfeld gehalten hat: „Nie wieder sollen Serben gekränkt werden!“ Das ist ein völlig uneinlösbarer Anspruch.

Volkan verwendet ein recht eindringliches Bild für das Zusammenspiel von individueller und kollektiver Identität: Erstere entspräche der Kleidung, die wir am Leib tragen, und die Gruppenidentität wäre gleichsam das Zelt, in das wir uns hineinbegeben …
Gross: … und die Zeltstange ist der Führer – da wird’s dann ein bissl schräg. An sich ist das Bild aber schon schlüssig: Je fadenscheiniger oder unpassender die persönliche Kleidung ist, umso wichtiger wird das Zelt. Man kann natürlich jede Metaphorik so lange strapazieren, bis sie reißt, aber ein bisschen kann man sie noch ausreizen und behaupten, dass jemand, der halbwegs vernünftig gekleidet ist, in verschiedene Zelte hineingehen und sich dort eine Zeitlang aufhalten kann.

Man ist dann kein Chauvinist, sondern eine Art Teilzeitpatriot oder wie?
Gross: Man findet Österreich nicht unbedingt rundum großartig, aber es ist einem vielleicht wichtig, dass Freud, Mahler und Musil Österreicher waren.

Apropos Musil: In dem Text „Der Riese Agoag“ begibt sich „der Held dieser kleinen Erzählung“ nicht in ein Zelt, sondern in einen Bus: „Denn wenn es richtig ist, (…) daß Kleider Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können? Man hat seine ungeheuerliche Kraft an oder um, wie ein anderer einen Panzer anlegt.“
Gross: Freud hat vom Menschen als „Prothesengott“ gesprochen, das geht in die gleiche Richtung. Die Frage ist, wie Identitätspolitik mit Solidarität zusammengehen könnte.

Da sind wir dann bei „Pride“, einem Feel-good-Movie über die historische Allianz zwischen der Schwulenbewegung und den streikenden Bergarbeitern von 1984, über das Sie unlängst auf einer Tagung referiert haben.
Gross: Genau. Und wenn ich Solidarität und Selbstverwirklichung beide als Ausdruck von Anerkennung auffasse, bedeutet das auch, dass ich ohne den anderen eigentlich zu keiner Identität finde. Wenn ich meine eigene Bedürftigkeit erkennen kann, werde ich mir leichter damit tun, auch für andere einzutreten. Da ist es dann nicht mehr weit zu Nelson Mandelas „I am, because we are“.

Dass die Lesben und Schwulen sich mit den homophoben Hacklern auf ein Packl hauen, war schon ein ziemlich einzigartiger Moment?
Gross: Regisseur Matthew Warchus hat in einem Interview gemeint, es sei ihm erst nach dem Drehen aufgefallen, dass der Film die Struktur einer Romantic Comedy hat, aber nicht zwischen einem Mann und einer Frau, sondern zwischen zwei Gruppen. Der seinerzeit zu Tode zitierte Sager von Che Guevara, „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, hat schon was! Zugleich war der in „Pride“ dargestellte Moment auch ein Kipppunkt: Klassische linke, gewerkschaftliche Solidaritätspolitik hat danach dramatisch an Macht verloren, und die Identitätspolitik wurde immer wichtiger.

Und der Niedergang der Identitätspolitik spielt sich irgendwo ab zwischen „Pride“ und „Little Britain“, wo der „only gay in the village“ auf seinem singulären Opferstatus beharrt, obwohl praktisch das halbe Dorf schwul ist.
Gross: Das haben wir hier und in der Realität auch: Zwei Lesben, die in Kaffeehäusern knutschen, bis sich endlich wer darüber aufregt.

Die Möglichkeiten, sich gekränkt zu fühlen, sind durch die Identitätspolitik vervielfacht worden.
Gross: Das Instrumentarium, jemanden einer Verfehlung anzuklagen, ist nachgerade unendlich geworden! Und so wie Ernst Bloch schon in den frühen 30er-Jahren sehr zu Recht darauf hingewiesen hat, dass man die Emotionen in der Politik nicht den Rechten überlassen darf, so sind die Rechten draufgekommen, dass man die Identitätspolitik nicht den Linken überlassen muss.

Es gibt Menschen, die ihre Kränkungen behandeln wie die Kronjuwelen. Sie polieren diese ständig auf.
Gross: Das ist der Punkt, wo die Analyse ansetzen kann, indem sie einen Konflikt ortet. Und Konflikt bedeutet, dass das Böse, Kränkende, Verachtende und Gehässige so gut wie nie nur von außen oder nur von innen kommt. Wenn ich es aushalte, dass die Welt eben nicht so simpel und schwarz-weiß ist, wie ich das in meinen Projektionen gerne hätte, wäre ich schon relativ weit.

Was bedeutet das jetzt für einen ganz konkreten Konflikt?
Gross: Na, ich werde knurrend anerkennen müssen, dass ich meinem Gegenüber nicht nachweisen kann, dass er oder sie verblendet ist und ich in allem recht habe. Das Ergebnis wird wohl ein Kompromiss sein, ein fauler Kompromiss, der neu ausgehandelt werden muss. Der Konflikt selbst aber wird erst mit unserem Tod aufhören.

Das betrifft aber nicht nur uns als private Individuen, sondern auch die Politik?
Gross: Ja. Man könnte sogar sagen, dass Politik überhaupt erst dann stattfinden kann, wenn konfligierende Positionen bezogen werden. Axel Honneth, der große Philosoph der Anerkennung, bringt die beiden Sphären, die psychische und die politische, zusammen, wenn er schreibt, dass – ich lese das jetzt vor – „die Bürger einer Zivildemokratie zur Mitwirkung am konfliktreichen Prozess der öffentlichen Meinungsbildung nur dann in der Lage sind, wenn sie in ihrer eigenen Entwicklung die Erfahrung intra-psychischer Konflikte haben machen können, die ihnen für die Tatsache des sozialen Dissenses gewissermaßen einen Verständnishorizont verschafft“.

Das wäre dann wohl auch der Punkt, wo sich Rechts- und Linkspopulismus unterscheiden: Die Linken wissen, dass der Konflikt nie aufhört.
Gross: Das ist das eine. Das andere ist, dass wir selbst aus widersprüchlichen Anteilen bestehen. Mein von mir bewunderter Kollege Christopher Bollas hat den schönen Begriff vom „inneren Parlament“ geprägt, in dem auch jene unserer Anteile, die wir nicht so schön und schätzenswert finden, ein Stimmrecht haben sollten.

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