

Vom Fortgehen und vom Nachkommen
Ulrich Rüdenauer in FALTER 41/2019 vom 11.10.2019 (S. 14)
In einem schmalen Roman gelingt es Ivna Žic, dem Thema der Heimatsuche neue Facetten und Töne abzugewinnen
Hach, schon wieder eine kroatische Großmutter! Und dazu ein Großvater, der ein bisschen verstockt in der Ecke sitzt und sich über eine wohl ungeheure Vergangenheit ausschweigt.
Und dann auch noch das: ein geheimnisvolles Porträt, gemalt von eben jenem Opa, das Bild einer jungen Frau, die nicht die Großmutter ist, sondern eine einstige Liebe vielleicht? Und natürlich: Erinnerungen der Enkelin an eine sommerliche Jugend auf einer Adriainsel, die in die Gegenwart hinübergreifen!
Aber gerade, wenn man über die vermeintlichen Klischees nörgeln möchte, kommt einem wunderbarerweise etwas in die Quere. Und das ist die Sprache von Ivna Žic – 1986 in Zagreb geboren, in Zürich aufgewachsen und dort sowie in Wien lebend, wenn sie nicht als Regisseurin und Dramatikerin durch halb Europa pendelt.
Sie macht aus dieser Geschichte, die wie viele gute Geschichten autobiografische Spurenelemente enthält, ein kleines Kunststück. Klein nicht, weil zum großen Kunstwerk viel fehlte; sondern weil „Die Nachkommende“ ein schmales Buch ist und auf gerade mal 160 Seiten so viel Verspieltheit, Konzentriertheit, Leidenschaft, Klugheit und Traurigkeit aufbringt, dass man angesichts solcher Fülle nur staunen kann.
Žic teilt mit ihrer Heldin das Dasein der Ausgewanderten: Die Eltern verlassen Jugoslawien „kurz vor alldem“, also bevor die einstige Utopie eines Vielvölkerstaats in den Balkankriegen endgültig zerbirst. Der Vater hatte ein „Bauchgefühl“ gehabt, die Tochter wächst nun in Zürich auf, ein See wird gegen das Meer getauscht. Aber dennoch reißen die Verbindungen zur alten Heimat nicht ab.
Es gibt die Großeltern in der Stadt und jene auf der Insel, es gibt den „Sprachspagat“ und die Grenzen. „Und vielleicht sind all diese Bewegungen vorläufige, sind vor allem: vorgehende, der eine Sommer durch Europa, der Gang des Großvaters an die Grenze und zurück, der Gang der Eltern über die Grenzen und das Wiederkehrende meiner Reisen, dadurch bedingt, diese vielen Kilometer, die Stunden kosten, und die unausgesprochenen Träume und Alpträume dahinter.“
Die Leserinnen und Leser begleiten die junge Frau auf einer ihrer Fahrten nach Kroatien. Kurz zuvor war sie noch in Paris gewesen, um sich von ihrem Liebhaber, einem verheirateten Mann, zu trennen – was grandios misslingt.
In ihren Gedanken, im Zug sind aber noch andere Menschen anwesend, tote vor allem. Einer davon, der Großvater, begleitet die namenlose Erzählerin auf der ganzen Reise. Und gerade er, der seiner Enkelin Märchen von Feen erzählt und Wörter in der Buchstabensuppe gesucht hat, hat über die eigene Geschichte stets geschwiegen – so laut, dass es nicht zu überhören war. Sein eingangs erwähntes Gemälde, das im Haus auf der Insel hängt, verweist auf die Zeit, als sich der Großvater in Paris aufhielt, um Maler zu werden, und Träumen nachhing, die später verleugnet werden mussten, weil sie ihm gefährlich zu werden drohten.
Ivna Žic verknüpft die verschiedenen Lebensläufe raffiniert miteinander, spiegelt heutige in früheren Zeiten, politische Erfahrungen mit ganz intimen. Der durchgängig gewahrte poetische Ton sorgt dafür, dass diese Überblendungen und Sprünge nichts Aufdringliches haben, deren Vagheit durch die Arbeit der Erinnerung beglaubigt wird.
Gebrochene und unterbrochene Biografien, Geschichten von Abschied und Ankunft verschmilzt die junge Autorin zum existenziellen Drama einer Heimatsucherin. Es sind Raum- und Herkunftserkundungen, die in der Erzählerin-Position des Dazwischen zugleich ihre Dringlichkeit und Offenheit erhalten. Umso schöner ist es, dass Ivna Žic, die in einem deutschen Verlag veröffentlicht, für den Österreichischen und den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert ist. Nieder mit den Grenzen!