

Die Arbeit ist jetzt immer und überall
Gerlinde Pölsler in FALTER 17/2022 vom 29.04.2022 (S. 17)
Unverschämt breit hat sich die Arbeit in den letzten Jahren gemacht, finden Mareile Pfannebecker und James A. Smith. "Wenn du für Geld arbeitest, wird mehr von dir zu Geld gemacht. [...] Sie kriegen dein Lächeln, deinen Charme, dein Selbstständigarbeiten [...]. Nach der Arbeit kommt Schattenarbeit, und die war auch mal eines anderen Job und Lebensunterhalt. Du tippst deine Zugreisedaten ein, scannst Barcodes." Arbeits-E-Mails kommen rund um die Uhr. Historisch sei dies der erste Moment, in dem es keinen Zeitpunkt und Ort mehr gibt, wo man nicht arbeiten könne.
Die in Großbritannien lebenden Literaturwissenschaftler legen ein provokantes Buch darüber vor, wie die Arbeit in immer mehr Lebensbereiche vorgedrungen ist - während viele Menschen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können oder ganz von bezahlter Arbeit ausgeschlossen werden. Kundig mäandern die beiden durch die Geschichte, zu Marx und zu Anti-Arbeits-Utopien; sie zerpflücken Phänomene der Popkultur und die Politik.
Zentrale Begriffe sind die "Missbeschäftigung" und die "Entschäftigung". Mit "Missbeschäftigung" meinen sie nicht nur Jobs, die nicht zum Leben reichen, sondern auch solche, die "körperlich und geistig ungesund" und "übermäßig kontrolliert und unwürdig" sind -wenn etwa Coffeeshop-Ketten Teams mit mürrischen Mitgliedern kollektiv bestrafen. Sogar arbeitslos zu sein sei heute ein harter Job, für den es zahlreiche Auflagen zu erfüllen gilt. Bei Verstößen setzt es Sanktionen - mit der Folge, dass Menschen einfach aus dem System fallen und auch keine Unterstützung mehr erhalten.
Wer hingegen mitspielen will, muss mehr als seine berufsbezogenen Kompetenzen zu Markte tragen: Gefragt ist die ganze Person mitsamt emotionalem Commitment. Anhand der verstorbenen Peaches Geldof zeigen die Autoren ein frühes Beispiel für ein Lebenswerk, das aus der Persönlichkeit und dem Privatleben der jungen Frau bestand, die sie in sozialen Medien präsentierte. Eine riskante Existenzform, die nur wenigen ein Auskommen finanziert und flugs wieder verloren gehen kann.
Mittlerweile seien auch Nichtberühmte zunehmend "gezwungen, sich online in denselben Formaten und nach denselben Regeln zu präsentieren". Es sei normal geworden, sein Leben zu kuratieren und "sich selbst für das tägliche Leben als Sympathieträger*in zu verkaufen". Das gelte für den Uber-Fahrer genauso wie für die Uni-Lektorin: Beide brauchen gute Publikumsbewertungen.
"Alles ist Arbeit" besticht durch starke Thesen, die die Beobachtung schärfen. Positive Aspekte der heutigen Arbeitswelt kommen allerdings so gut wie gar nicht vor. Dass es etwa sehr wohl Menschen gibt, die ihre "neue Selbstständigkeit" nicht mehr gegen eine Fixanstellung tauschen würden, weil diese neben Risiken eben auch Freiheiten bietet. Unklar bleibt, wo die Autoren Anzeichen für ein "Ende des Kapitalismus" ausmachen, das sie im Untertitel ankündigen.
Vage bleibt auch die Vision für die Zukunft. Anti-Arbeits-Utopien helfen laut den Autoren nur bedingt, sähen die meisten doch für ein Leben nach der Lohnarbeit erst recht wieder produktives, sinnstiftendes Tun vor -und nicht etwa, dass der befreite Mensch tagsüber Groschenromane liest und sich abends Gin reinkippt.
Der Vorschlag der Autoren: Wir sollten die selbst geschaffenen Maschinen, darunter das Internet, für emanzipatorische und solidarische Initiativen nutzen. Wie genau das gehen soll? Da müssen wir schon selber nachdenken. Arbeiten eben!