

„Je länger der Krieg dauert, desto trotziger werden viele Russen“
Erich Klein in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 27)
Sabine Adler, langjährige Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunk, beginnt ihren Großessay mit dem Hinweis, Russland habe es Journalisten immer schon schwer gemacht, über das Land unabhängig zu berichten. Seit Putins Amtsantritt werden ausländische Journalisten wieder gegängelt, unabhängige russische Medien wurden mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine endgültig zum Schweigen gebracht. Genau diesen Krieg nimmt die Autorin zum Anlass, über Russlands Zukunft nachzudenken.
Kein einfaches Unterfangen, gibt es doch keinerlei gültige Umfragen dazu, was die Russen über den Krieg denken. Das oftmals von Politologen ins Spiel gebrachte Drittel, das für diesen Krieg eintritt, neben einem Drittel an Kriegsgegnern und ebenso vielen Indifferenten, könne nur als Richtwert dienen. Also startet die russlanderfahrene Journalistin ihre private Umfrage unter jungen Russen und erschrickt: „Je länger der Krieg dauert, desto trotziger klingen viele Russen, wenn man sie nach ihrer Meinung zum Feldzug gegen das Nachbarland fragt. Tenor: Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es sei ein verrückter Fehler gewesen, den Krieg anzufangen, aber jetzt müsse man ihn gewinnen, sonst würden die Russen den Kummer der Besiegten erleiden.“ Adler hält wenig von der These, Putin wolle die einstige Sowjetunion wiederherstellen, eher diene der Krieg der Aufrechterhaltung seines autoritären Regimes.
In gut lesbaren Mikroessays analysiert sie den Aufbau des zentralistischen russischen Staates, der eigentlich eine Föderation sein sollte, und wie es nach den Chaosjahren der russischen Unabhängigkeit zur Wiederkehr jenes „bodenständigen“ Nationalismus kam, der heute das Land beherrscht. Besonderes Augenmerk legt Adler auf die mafiöse Grundstruktur des russischen Staates, die sich mit Putin etablierte. Dessen Hauptakteure beschreibt sie in Einzelporträts – von den Oligarchenbrüdern Rotenberg bis zu Wladislaw Surkow, dem Spindoktor des Ukrainekriegs.
Den interessantesten Teil widmet die Journalistin dem russischen Imperialismus und der Frage des möglichen Zerfalls des größten Flächenstaats der Erde. Dass Russland ein Kolonialreich darstellte, wusste schon Lenin; da es keine „überseeischen“ Kolonien besaß, wurde es aber kaum als solches wahrgenommen. Die unablässige Abfolge kleinerer Kriege seit dem Zerfall der UdSSR hätte die Welt eines Besseren belehren können: In der kürzlich wieder ins Blickfeld geratenen moldawischen Separatistenregion Transnistrien gab es schon 1991 blutige Auseinandersetzungen, in letzter Zeit rumorte es in Teilrepubliken wie Dagestan oder Baschkortostan. „Würde Putin den Krieg in der Ukraine gewinnen und dieser Sieg mit einer territorialen Einverleibung des ukrainischen Staates einhergehen, wäre das Land die erste Kolonie, die Russland im 21. Jahrhundert erobert.“
Adler beschreibt auch Russlands gestiegenes Interesse an 17 afrikanischen Ländern, die Präsenz russischer Söldner und deren Involvierung etwa in den Diamantenhandel. Ein wenig zu kurz kommt die im Buchtitel angekündigte Selbstzerstörung Russlands in ökonomischer Hinsicht. Gazprom und der Internetkonzern Yandex waren unabhängig von Putin zu respektablen internationalen Playern geworden, bevor ihnen der Krieg mehr oder weniger den Garaus machte. Last but not least brachte Putins Krieg Russlands Selbstverständnis als „europäische“ Kultur in schwere Bedrängnis. Adler: „Und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Es sei denn, das Putin-Regime wird massiv bekämpft. Von innen und von außen.“