

Glutenintoleranter Halbdäne sucht Sinn
Julia Kospach in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 45)
Was sind sie zu beneiden, die Gürteltiere, Ponys, Seepocken und all die anderen tierischen und pflanzlichen Lebewesen auf diesem Planeten, die im Gegensatz zu uns Menschen nicht wissen, dass ihnen der Tod ins Haus steht! Da kann man als Gürteltier leicht „einfach umherschweifen, chillen“ und „das Leben nehmen, wie es kommt“, während wir mit unserem „bizarr überentwickelten Gehirn“ die abstrusesten Manöver entfesseln müssen, um irgendwie mit „der sicken Erkenntnis“ zurande zu kommen, dass es eines Tages „unvermeidlich, unkontrollierbar, unvorhersehbar“ ans Sterben gehen wird. Indessen wir hadern, prosten einander bestens gelaunte Gürteltiere mit Sektgläsern zu und singen dazu „Living la vida loca“.
So stellt sich die Szenerie textlich und zeichnerisch in Liv Strömquists neuester Graphic Novel „Das Orakel spricht“ dar. Deren Kernthema: wie belämmert wir Menschen die Sinnsuche im Wissen um unsere eigene Sterblichkeit gern anlegen. Verdrängung, religiöser Wahn, Aberglaube, Wellness-, Schönheits- und Spaßkultur sowie Influencertum und Social Media sind die Bereiche, die Strömquist nach Ratschlägen für ein besseres Leben durchforstet hat.
Skurril und widersprüchlich wird es da schnell einmal, und die vielfach preisgekrönte schwedische Zeichnerin, die als „Sexualaufklärerin, Ideenhistorikerin, Normkritikerin und Kulturvermittlerin“ in Personalunion gilt, beweist einmal mehr scharfen Blick und frechen Zeichenstrich. Dazu ist Strömquist auch in ihrem siebten Buch über die Skurrilitäten der Conditia humana extrem lustig. Bild für Bild komponiert sie herrlich witzige, bunte Duette zwischen Text- und Bildebene, wobei ihre zeichnerischen Ideen mindestens so gut sind wie ihre charakteristischen Figurendarstellungen und ihre Sprechblasentexte.
Strömquist durchmisst Jahrhunderte, lässt Philosophen, Psychologinnen und Soziologen zu Wort kommen, macht in der Antike beim Orakel von Delphi und der Göttin Fortuna genauso Station wie im 14. Jahrhundert bei der Heiligen Katharina von Siena, die überzeugt war, mit Gott einen Deal eingehen zu können. Von Katharinas „mega seltsamem Gottesbild“ wechselt Strömquist locker zur Selfcare-Epidemie des 21. Jahrhunderts und zu unserem Zwang, alles kontrollieren, vorhersehen und uns zur Verfügung halten zu wollen – Welt, Gesundheit, Glück, Schönheit, Liebe. Doch warum flieht uns das, was wir begehren, so leicht?
Guter Rat ist teuer. Womit wir bei der stets wachsenden und an raren Figuren reichen Gruppe der Lebens-, Liebes- und Gesundheitsberater:innen angelangt wären, denen Strömquist besonders viel Raum gibt. Ob’s der US-Promi-Astrologe Carroll Righter (1900–1988) ist, der Hübsch- und Glücklichsein als die zwei Hauptanweisungen der Sterne an uns alle propagierte und engster Berater von Nancy und Ronald Reagan war, oder der Manosphere-Youtuber Rollo Tomassi, dessen Ehe-, Sex- und Aufriss-Tipps ihn mehr als ängstlichen Kontrollfreak denn als coolen Auskenner entlarven. Oder die US-Star-Instagrammerin und Psychologin Nicole LePera, die auf Self-Healing spezialisiert ist und den Traumabegriff kurzerhand auch auf Alltagserlebnisse ausgeweitet hat, um die dadurch rapid anschwellende Gruppe der Traumatisierten mit ihren Tipps (Höre auf das Kind in dir!) zu versorgen.
Sie alle kriegen bei Strömquist ordentlich ihr Fett ab, weil sie vorgaukeln, über Patentlösungen für den Umgang mit dem komplexen Chaos von Leben und Sterben zu verfügen. Was also tun? Strömquist hält es mit Humor, Aufklärung und sagenhaft lustigen Darstellungen unserer verzweifelten Suche nach Sinnstiftung. Es ist nicht leicht, im Heute zu leben, weil man vor lauter freier Wahl ständig Stellung beziehen muss. Bei Strömquist klingt das dann etwa so: „Ich bin Halbdäne, glutenintolerant, teils intro- und teil extrovertiert, teils Charaktertyp ‚blau‘, Katzenmensch sowie ‚Sigma Male‘“. Sehr, sehr witzig