

Die erste Filmregisseurin der Welt
Michael Omasta in FALTER 25/2023 vom 23.06.2023 (S. 39)
Filme können mehr als nur Arbeiter beim Verlassen der Fabrik zeigen oder einfahrende Züge in einem Bahnhof. Sie können Geschichten erzählen. Alice Guy muss diese Erkenntnis wie ein Blitz getroffen haben. Nur wenige Monate nachdem sie im März 1895 an der ersten öffentlichen Vorführung des Kinematographen in Paris teilgenommen hat, schlägt die junge Sekretärin ihrem Arbeitgeber Monsieur Léon Gaumont, der mit optischen Geräten und Kameras handelt, vor, in die Filmproduktion einzusteigen: Sie habe eine Idee für einen Film mit einer Handlung.
Auf einer Terrasse vor gemalter Kulisse dreht sie mit geliehenen Kostümen und Kohlköpfen aus Pappmaché "La Fée aux choux": eine Mädchenfantasie über "die Erzeugung von Babys", die in Frankreich bekanntlich nicht vom Storch gebracht werden, sondern in Kohlköpfen wachsen. Die ganze Szene ist in einer einzigen Einstellung gedreht, ohne Schnitt, ohne Kamerabewegung und natürlich auch ohne Credits, die Auskunft über die beteiligten Personen gäbe -eine Minute Filmgeschichte.
Alice Ida Antoinette Guy (1873-1968) war "die erste Filmregisseurin der Welt". So lautet auch der Untertitel der Graphic Novel von Catel Muller (Zeichnungen) und José-Louis Bocquet (Szenario), deren französische Originalausgabe vor zwei Jahren erschienen ist. Und die nun, rechtzeitig zu Guys 150. Geburtstag am 1. Juli, auch in deutscher Übersetzung (von Antje Riley) vorliegt.
Der voluminöse Band geht weit über die Biografie der zu ihren Lebzeiten stark vernachlässigten Filmemacherin hinaus. Er gibt zudem Einblick in die Konsolidierung des jungen Mediums, die Faszination der bewegten Bilder wie etwa den Kampf um neue Ideen, Apparaturen, Patente, die kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert miteinander konkurrieren: der Phototachygraph, das Alethoskop, der Pantobiograph, der Badizograph, das Capiposcope et cetera.
Allerdings hat der Kinematograph auch schwere Rückschläge zu verkraften. So kommt es im Mai 1897 bei einer Filmvorführung auf dem Bazar de la Charité zu einem Großbrand, dem 130 Menschen zum Opfer fallen. Catel und Bocquet erzählen die Katastrophe indirekt, ein Mädchen berichtet Alice davon: "Mama nahm meine Hand und hat mich schnell zum Ausgang gezogen. / Ich hörte Schreie
immer mehr Schreie! / Am Ausgang Dutzende von Frauen, übereinander gefallen, zertrampelt, erstickt / Da verlor ich Mamas Hand ..."
Die Pariser Weltausstellung 1900 wird zu einem wichtigen Schaufenster für die französische Filmkunst und Alice Guy, die in diesem Jahr allein 53 Kurzfilme inszeniert, erhält ein Diplom als Mitarbeiterin des Hauses Gaumont. Wenig später beginnt sie mit der Produktion sogenannter Phonoszenen, bei der populäre Grammofonaufnahmen mit einer Filmkamera synchronisiert werden. Binnen fünf Jahren setzt sie an die 100 dieser frühzeitlichen Vorläufer der Musikvideos in Szene.
Das Jahr 1906 läuft für Alice Guy beruflich wie privat schlicht phänomenal. Ihr bisher längster Film, das in mehreren Episoden gedrehte halbstündige Epos "La Naissance, la Vie et la Mort du Christ" mit 25 Szenenwechseln und 300 Statisten, wird zum künstlerischen Triumph. Außerdem lernt sie Herbert Blaché kennen, einen Kameramann aus dem Londoner Gaumont Studio, der um ihre Hand anhält.
Für eine Dekade lebt und arbeitet das Paar fortan zusammen. Sie übersiedeln in die Vereinigten Staaten, wo Blaché die Leitung des Gaumont-Studios bei New York übernimmt; Guy zieht mit Solax Films ihre eigene Produktionsfirma und in Fort Lee, New Jersey, ein topmodernes Studio auf.
Der freche, anarchische Witz ihrer frühen Regiearbeiten ist passé. Während sie in Frankreich noch die "Ergebnisse des Feminismus" satirisch feierte oder Komödien wie "Ich habe einen Maikäfer in meiner Hose" drehte, setzt Alice Guy nun auf Literaturverfilmungen, etwa "The Pit &the Pendulum" nach Edgar Allan Poe, und auf Starvehikel für Olga Petrova oder Bessie Love.
Frankreichs Eintritt in den Ersten Weltkrieg bedeutet das Aus für die französischen Exilanten, etliche von Guys wichtigsten Mitarbeitern werden in Europa eingezogen. Zudem erstarkt die Konkurrenz an der Westküste; bereits im Jahr nach dem Krieg entstehen acht von zehn Filmen -weltweit - in Hollywood.
Alice und Herbert leben mittlerweile getrennt, dennoch folgt sie ihm mit den beiden Kindern ins neue Mekka des Kinos. 1920 assistiert sie ihm bei "Stronger than Death", einem Melo mit der großen Tragödin Nazimova. Es ist das letzte Mal, dass Alice Guy an Dreharbeiten teilhat. Danach findet sie keinen Anschluss ans Filmgeschäft mehr, nicht einmal einen Verlag für ihre Memoiren.
Die letzten Kapitel widmen Catel und Bocquet dem Kampf der Filmpionierin um ihren Platz in den Annalen des Kinos. Vorbildlich an ihrer Graphic Novel ist nicht zuletzt der Anhang, der auf 80 Seiten eine dichte Chronologie des Lebens und Wirkens von Alice Guy sowie Kurzbiografien der wichtigsten Personen bringt.