

Treffen sich zwei am Konzerthaus-Klo
Klaus Nüchtern in FALTER 11/2014 vom 14.03.2014 (S. 12)
Angelika Reitzers Roman "Wir Erben" fürchtet sich davor, eine Geschichte zu erzählen
Angelika Reitzer ist die Schriftstellerin, die sich um das Pronomen erste Person Plural kümmert. Ihr vorletzter Roman "unter uns" (2010) beschreibt ein Milieu der Fortysomethings mit all seinen fragilen und fragwürdigen Lebensentwürfen und handelt von Familie, ohne deswegen schon ein Familienroman im herkömmlichen Sinne zu sein. Letzteres trifft auch auf das jüngste Werk der gebürtigen Grazerin zu.
"Wir Erben" führt recht unvermittelt in das Leben von Marianne und damit auch deren weitverzweigte Familie ein, die sich aus Anlass des Todes von Mariannes Großmutter Jutta in deren Haus im fiktiven niederösterreichischen Kaff Gumpenthal versammelt. Der Leser hat seine liebe Not, sich unter all den Großtanten, Cousinen, Schwiegertöchtern, Haushaltshilfen und Schulfreunden zurechtzufinden.
Nachdem man die meisten von ihnen schnell wieder vergessen hat (und auch vergessen darf, weil sie des Weiteren keine große Rolle spielen), werden zumindest die Konturen einer Geschichte sichtbar: Marianne, die ein bissl zu viel trinkt, hat einen mittlerweile erwachsenen Sohn von einem Schulfreund, der als Vater nie zur Verfügung stand, so wie auch sie selbst von ihrer Großmutter Jutta aufgezogen wurde und nun deren Baumschule, die sie schon zu deren Lebzeiten übernommen hat, offiziell erbt.
Im letzten Kapitel des Romans unterhalten sich zwei Mädchen in altklugem Ton übers Leben und darüber, wie Biografien zustande kommen: "Geht es dir auch so? Dass du ständig auf Menschen triffst, die schon wissen, wie es weitergeht? Mit dir. Mit allen. Als würden sie deine Geschichte, die noch gar nicht erzählt ist, ziemlich gut kennen?"
Keine Frage: Die Autorin misstraut dem wohligen Gefühl, das sich einstellt, sobald man nur imstande ist, "die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben" (wie es in Musils "Mann ohne Eigenschaften" heißt); sie glaubt nicht daran, dass sich Biografien sauber auf einen Lebensfaden fädeln lassen. Die Frage ist bloß, ob die schiere Verweigerung einer solchen chronologischen Ordnung auch schon einen erhöhten Erkenntnisgewinn beschert.
Der Fleckerlteppich aus Fakten, Andeutungen, Wahrnehmungen und belanglosen Details, der im ersten Teil von "Wir Erben" ausgerollt wird, macht den Roman nicht notwendig komplexer, ganz gewiss aber komplizierter. Wobei sich der Leser für das seltsam ungeklärte Verhältnis Mariannes zur eigenen Mutter schon deutlich mehr interessieren würde als für den Unterschied zwischen einem Fürhackdexel und Plätzdexel (es handelt sich um Werkzeuge zur Holzbearbeitung).
Hinzu kommt, dass die Erzählposition nicht durchgehalten wird. Recht willkürlich wechselt der Roman für kurze Passagen in die erste Person, schert an anderer Stelle dafür aus dem streng personalen Erzählen aus, wenn notwendige Basisinfos für die Leser etwas ungelenk in die erlebte Rede montiert werden. Aus Furchtsamkeit, ja nicht naiv zu erzählen oder finale Deutungsangebote zu machen, wird nichts auserzählt, alles nur angerissen, sodass dem Roman schließlich das Sujet abhandenzukommen droht.
Das ist auch insofern bedauerlich, als Reitzer abseits der kalkulierten narrativen Selbstkasteiung sehr schöne und anrührende Passagen glücken: etwa wenn Marianne den langjährigen Mitarbeiter der Baumschule, der irgendwie zur Familie zählt und doch ein Gastarbeiter geblieben ist, in dessen Heimatland besucht oder wenn ihr überraschend in eine mondänere, maritime Existenz aufgebrochener Freund Roman frühzeitig stirbt – und kaum etwas von diesem bleibt: "(
) die Koffer mit seiner Kleidung und den Anzügen in großen Säcken, die man aufhängen konnte, es waren doch nur vier. Im dem fünften wurde er begraben."
Wesentlich straffer ist der zweite Teil des Romans erzählt, in dessen Mittelpunkt unversehens eine ganz andere Protagonistin steht: Siri ist in der DDR aufgewachsen und flieht als 16-Jährige mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester über Ungarn nach Österreich. Kurz darauf fällt die Berliner Mauer und die Familie kehrt unverrichteter Dinge in ihre alte Wohnung im deutschen Osten zurück, wo freilich niemand auf sie gewartet hat. Auch Teile der Möblierung fehlen.
Im Unterschied zum ersten Teil, der vielfach mit Rückblenden und Vorgriffen arbeitet, wird die Erzählung von Siri einigermaßen chronologisch präsentiert, ist aber von Anfang an der Kontingenz der Geschichte unterworfen: Mit ihrer Flucht nehmen die Kortners beträchtliche Risiken und Verluste in Kauf, die sich wenige Monate später als sinnlos erweisen. Dumm gelaufen.
Auch abseits solcher historischen Ereignisse bleibt der Faden von Siris Leben an Zufälle geknüpft. Apropos "geknüpft": Eröffnet sich zunächst die Möglichkeiten einer Karriere im Teppichhandel und die Aussicht, mit einem persischen Unternehmerehepaar in den Iran zu reisen, so wird ein USA-Stipendium im Rahmen eines halbherzig begonnenen Kunstgeschichtestudiums zur tatsächlich realisierten Option. In der kleinen Universitätsstadt geht Siri infolge eines Radunfalls ihres Riechvermögens verlustig.
Dort lernt sie auch ihre japanischen Kommilitoninnen kennen, mit denen sie später einen Städtetrip nach Wien unternehmen und dort – auf dem Klo des Konzerthauses – zufällig auf die ihr bis dahin unbekannte Marianne treffen wird.
Womit auf Seite 316 mit dieser sehr beiläufig, um nicht zu sagen hopatatschig erzählten Begegnung immerhin geklärt wäre, wie die beiden Teile des Buches miteinander zusammenhängen. Die Frage, warum sie einen Roman ergeben, ist damit freilich noch nicht beantwortet.
Lesung: 27.3., Rauris, Literaturtage; 7.4., Graz, Literaturhaus