

Vier Frauen und ein Philosoph
Christina Dany in FALTER 41/2016 vom 14.10.2016 (S. 30)
Dagmar Leupold legt mit „Die Witwen“ einen sprachgewaltigen Roman mit vielen Querverweisen und lustigen Tiernamen vor
Gleich der zweite Satz ein gewagter Leckerbissen: „Die Weinberge stürzen hier ab wie eine stürmische Zusage.“ Und noch während man vorsichtig daran kaut, legt die Autorin schon nach: „Der Himmel wirft das lebenssatte Grün des Weinlaubs zurück.“ Echt jetzt? „[K]eine andere Gegend kann das bieten: einen Himmel, der grünt.“ Dann wird man das wohl glauben müssen. So jedenfalls schildert Dagmar Leupold das idyllische Städtchen Steinbronn an der Mosel, in dem Penny, Dodo, Bea und Laura leben, Freundinnen seit Kindheitstagen, „nicht mehr jung, aber längst nicht alt. Nur ratlos. Und irgendwie übrig.“
Witwe ist übrigens keine von ihnen, jedenfalls nicht offiziell. Pennys Mann ist zwar vor Jahren auf einer Dienstreise verschwunden, aber seine Frau ist überzeugt, dass er noch am Leben ist, und wohl auch, dass er eines Tages zurückkehren wird. Ihr Name, die Kurzform von Penelope, ist auch der erste deutliche Hinweis auf das mythologische Motiv, das kunstvoll in diesen Roman eingewoben ist. Ihr verschollener Mann heißt Otto statt Odysseus, ihr Sohn nicht Telemach, sondern Berthold, ein treuer Hund nicht Argos, sondern Zwiebel. Und Penny selbst wird nicht in einem Palast von Freiern belagert, sondern im Wirtshaus des verschollenen Winzergatten von Trunkenbolden an der Schürze gezogen.
Auf den ersten 30 Seiten entfalten sich, flott skizziert, die Lebensläufe der vier Frauen, man wird mit allerlei Details versorgt (Haarfarbe, Beruf, verflossene Liebhaber et al.), und dennoch bleiben die Figuren zunächst seltsam papieren. Das wird sich erfreulicherweise bald ändern. Ausgerechnet die beherrschte, kühle Laura ruft zum Abenteuer auf: „Das halbe Leben haben wir nun schon an diesem Ort der schönen Verheißungen verbracht, aber wir haben kaum etwas erlebt, einfach immer nur gelebt. Lasst uns etwas erleben.“
Hier nun kommt ein einsamer, depressiver Privatgelehrter ins Spiel, der seine Zierfische nach Philosophen benennt und morgens umstandslos ins Waschbecken onaniert. Die vier Damen heuern ihn als Chauffeur für eine Bildungsreise an. Der Mietwagen ist natürlich ein Fiat Ulysse.
Das kultivierte Trüppchen macht sich auf zur Quelle der Mosel und durch das Elsass. An einem geschichtsträchtigen Ort in den Vogesen kommt es zu einer Panne, die sich als Glücksfall entpuppt, denn in dem stillstehenden Wagen nimmt die Handlung rasant an Fahrt auf. Die vier Freundinnen erzählen einander endlich, wovon sie zuvor immer geschwiegen hatten, und dabei wird klar, warum ihnen allen „eine zarte Schleppe aus Trauer und Abgelebtem“ anhängt, wie ihr Fahrer in seinem Tagebuch vermerkt.
Diese Lebensbeichten liest man mit neu erwachtem Interesse, wobei sich allerdings schon nach der zweiten eine kleine Schwäche abzeichnet: Die vier Geschichten sind alle in dem gleichen geschraubten, hohen Tonfall erzählt, den man keiner der vier Protagonistinnen wirklich abnimmt – der akademisch versierten Autorin des Romans aber sofort.
Leupold hat nicht umsonst Germanistik, Philosophie, Klassische Philologie und vergleichende Literaturwissenschaft studiert, Zitate aus Cervantes „Don Quijote“, Walter Benjamins „Moskauer Tagebuch“ oder Gerald Bartls „Spuren und Narben“ (Untertitel: „Die Fleischwerdung der Literatur im Zwanzigsten Jahrhundert“) und dem Alten Testament sind für die gebildete Leserschaft elegant in den Text montiert, wer eins erkennt, freut sich.
Es finden sich feine Sätze wie diese: „Altern verjüngt insofern, als es in Unsicherheiten zurückversetzt, die dem Heranwachsen angehört hatten“; „Für Irrfahrten muss man nicht aufbrechen, aber wenn man aufbricht, sollte man sie vorhaben“, oder „Mondlicht erhellt die Verhältnisse nicht, sondern verdunkelt sie. Angemessen, bedenkt man ihre Undurchsichtigkeit“ …
„So spricht doch kein Mensch!“, denkt sich der Leser und dürfte sich auch die Autorin selbst mitunter gedacht haben, weswegen sie einen charmanten Kunstgriff anwendet: Immer, wenn’s etwas gar poetisch wird, weist eine der vier Freundinnen gleich selbst darauf hin. Zum Beispiel so: „Ach, Dodo, das hast du schön ausgedrückt.“