

Ich bleib da und du musst raus
Susanne Schaber in FALTER 11/2017 vom 15.03.2017 (S. 20)
In „Nesselhemd“ erzählt Elfriede Kern märchenhaft und gebrochen zugleich von einer asymmetrischen Paarbeziehung
Der Rucksack steht bereit, der Proviant ist portioniert und die Landkarte gespickt mit Hinweisen zu Wegmarken und Übernachtungsmöglichkeiten. Eigentlich könnte es losgehen. Doch Meret zögert. Es ist Herbst geworden, und empfindlich kalt. Sie möchte daheim bleiben und nicht schon wieder auf die Straße. Ihr Freund Sam aber ist unerbittlich: Meret soll zu Fuß gen Norden aufbrechen, Wetter hin oder her. Während er indessen hinterm Ofen sitzt und ihr Zuhause okkupiert.
„Nesselhemd“ nennt Elfriede Kern ihren vierten Roman. Zuletzt erschienen die Erzählungen „Tabula Rasa“, das ist 15 Jahre her. Eine lange Zeit. Entsprechend gespannt ist man auf das jüngste Buch der Autorin. Dass es alles andere als schnell geschrieben wurde, meint man zu spüren. Dieses „Nesselhemd“ ist ein hochartifizielles, fein gewebtes erzählerisches Geflecht.
Als Meret den unergründlichen Sam kennenlernt, lebt sie etwas isoliert im Haus ihrer verstorbenen Eltern. Was die beiden wirklich verbindet, bleibt im Dunkeln. Offensichtlich hingegen ist die Funktionsweise ihrer Beziehung: Sam befiehlt und Meret gehorcht.
Er verspricht, was er nicht halten will, setzt sie unter Druck und vor die eigene Tür. Wenn Meret erschöpft zurückkehrt, jagt sie ihn davon. Sie braucht Wochen, um sich zu erholen – ehe sie ihm neuerlich ins Netz geht. Das Prozedere beginnt von vorn. Sam legt ihr eine Marschroute vor und nistet sich im Warmen ein: „in deinem Bettchen schlafen, von deinem Tellerchen essen, aus deinem Becherchen trinken“.
Es sind Sätze wie aus der Feder der Brüder Grimm, und es finden sich darunter Zitate aus der Geschichte der sieben Brüder, die sich, vom Vater verwünscht, in Raben verwandelt haben. Das Schwesterchen muss sich bis ans Ende der Welt schleppen, um die Geschwister als Männer heimzuholen. Elfriede Kerns Roman trägt märchenhafte Züge. Tellerchen, Löffelchen und Bettchen, das Nesselhemd, an dem das Mägdelein verzweifelt arbeitet, und die verwunschenen Prinzen ragen als Leitmotive aus der Handlung.
Was immer Meret anstellt: weit und breit keine Erlösung in Sicht, nicht für Sam und auch nicht für sie. „Deine monate-, wenn nicht jahrelange Abwesenheit ist unbedingt notwendig, um alles zum Guten zu wenden“, hört Meret wieder und wieder. Was aber ist dieses „alles“, und was soll sich „wenden“?
Elfriede Kern hält vieles in der Schwebe. Sie zeichnet das Psychogramm eines Paares, das sich in Kämpfen um Macht und Kontrolle zerreibt. Der Stoff riecht nach Psychoterror und schweren Geschützen und kommt doch recht leichtfüßig daher. Was auch daran liegt, dass sich die Autorin dem linearen Erzählen verweigert. Das Schreiben gibt Meret Halt und dem Roman seine eigenwillige Struktur. In zwei Heften hält sie fest, was sich zutragen könnte und was tatsächlich passiert.
Das klingt einfacher, als es ist, wenn Realität und Traum verschwimmen. Gleichzeitig rapportiert Meret das solcherart Notierte. Wendungen wie „habe ich gefragt, habe ich geschrieben“ oder „hat Sam gesagt, habe ich geschrieben“ wiederholen sich in endlosen Schleifen.
Kerns Roman kommt nur zögerlich vom Fleck, zumal sich Manierismen einschleichen und die zahlreichen Labyrinthe und Sackgassen ermüden. Doch Geduld bringt Rosen. Wer sich dem langsamen Rhythmus des Bandes anvertraut, wird spüren, wie konzentriert dieser gebaut ist. Gegen Schluss hin, wenn sich das Buch immer surrealer gebärdet und sein Spiel mit uns Lesern treibt, gewinnt es an Tempo. Je länger Meret für sich alleine bleibt, umso eigenständiger wird sie, trotz der Bindungen an Sam und dessen destruktive Direktiven.
Dieses „Nesselhemd“ ist nicht zuletzt auch ein Roman über die Kraft der Worte und den Sog der Sätze. Elfriede Kern zieht uns hinein in einen magischen und darin verwirrenden Kosmos und schneidet die Fluchtwege ab. Und das Happy End dieses Schauermärchens? Und so lebten sie glücklich oder unglücklich bis … der Bleistift ein Stummel ist und die Druckstellen an den Fingern schmerzen.