

Und herzerfreulich wedeln die Blätter
Björn Hayer in FALTER 41/2018 vom 12.10.2018 (S. 20)
Weitverzweigt und doch überfrachtet: Julian Schuttings neuer Lyrikband „Unter Palmen“ verliert sich im eigenen Gewucher
Einmal unter Palmen zu flanieren, ohne sich dabei der Hitze aussetzen zu müssen, hätte man gerade im vergangenen Sommer sicherlich als ein angenehmes Vergnügen bezeichnet – nach dem Motto: lockeres und erholsames Reisen direkt von Balkonien aus. Denn um in jene fernen Gefilde zu gelangen, braucht es nicht einmal einen Flug, sondern einfach poetische Vorstellungskraft. Julian Schuttings neue Lyrik hüpft geschwind von Kalifornien nach Kuba, überhaupt quer durch die Literatur- und Kulturgeschichte.
Was den Band „Unter Palmen“ zusammenhält, sind eben allein die großwüchsigen Pflanzen, deren kontinuierliche Präsenz durch sämtliche Epochen einem nun erst richtig vor Augen geführt wird. Mit dem Langgedicht „EINMAL NOCH“ geht der 1937 in Amstetten geborene Autor weit zurück in die Antike, erinnert an die Erlösungsfantasie des Orest. Dieser sieht die Eumeniden „durch eine Palmenallee zu einer Menschenbucht lustwandeln“, wo sie sich von ihrer Schuld reinigen. Jahrhunderte ziehen danach vorüber, in denen sich das Motiv verwandelt. Mitunter ergibt sich eine erotische Komponente, wenn man – assoziierend – etwa an die Blätter der Tabakpflanze denkt. Denn verarbeitet wird sie in einer Fabrik, worin Georges Bizets bekannteste Bühnenfigur arbeitet, die verführerische Femme fatale Carmen. Wenige später geht es dann etwas sakraler zu. Die Rede ist vom „Palmwedelthron“ des umstrittenen Papstes Pius XII. – eine Täuschung, „wenn doch damalige Photographien bezeugen, / daß hinter seinem Thron an langen Stangen / zu Fächern gefügte weiße Straußenfedern aufgeragt haben“.
Was dem Leser geboten wird, ist „weitverzweigt“ im ästhetischen Sinne. Denn Schuttings gedanklich immer weiter ausgreifende Gedichte sind dem Wachstum eines Baumes nachempfunden. Dessen Krone aus Zweigen wird dichter und dichter. Blätter und Ranken wuchern wie die Wörter: chaotisch sprießend.
Das mag, um eine der häufig altmodischen Verwendungen des Poeten zu gebrauchen, mitunter durchaus „erquick(t)“ sein. Allerdings sind die seitenweise ohne Absätze verfassten Suaden von Überkomplexität und Übercodierung gezeichnet. In seinem letzten Band „Der Schwan“ waren Schutting noch berührende Miniaturen mit existenzieller Schwingkraft gelungen, die vom in Gebirgshöhen aufsteigenden Liebesschmerz bis hin zur Ergründung utopischer Sphären reichten.
Nun wirken die Sätze schwerlastig, beladen mit zu vielen Bildern und Anspielungen. Besonders fällt aber die kitschige Ornamentik ins Auge. Nur eine Kostprobe aus der poetischen Zuckerbäckerei: „Palmen / bilden herzerfrischende Palmbaumgruppen, / und ach wie herzerfreulich zu betrachten, / wie ihre Blätter im Luftstrom sich wiegen: / ein Abenteuer, bereits im Erwachen, / ihr vogelflügeliges Meeresbranden; / ach ihre Kronen aus fedrigen Zweigen, / die im Verebben wie Wellen sich werfen“. Sollte das ironisch gemeint sein, dürfte man das ganze Buch nicht ernst nehmen. Dem ist nicht der Fall. Denn Schutting will uns „durch eine Palmenlandschaft / ziehen sehen, durch eine so biblische, als gingen hingegangen Wahrgebliebenem / nachhangende Gespenster uns ähnlicher Gestalt durch wirklich Wahres wie durch bloß Gedachtes“. Der Autor lotet den Musil’schen Möglichkeitssinn aus: zwischen Dichtung und eben Wahrheit, wobei er Letztere zu finden hofft.
Manchmal gilt die ästhetische Binsenweisheit eben doch: Weniger ist mehr. Etwas mehr Klarheit und Reduktion hätte diesem mit allerlei Dekor behafteten Band, in dem man überdies noch mit Arnold Schönbergs Schwiegertochter durch Palm Springs spazieren geht oder auf dem rauen Meer Heinrich, dem Seefahrer, begegnet, sicherlich gut getan. Vielleicht folgt ja im nächsten Werk nach den zum Himmel ragenden Palmen wieder der Versuch einer Erdung. Erfreulich wäre es allemal.