

Anheber, Freerider und Tourismus-Dropouts
Sebastian Fasthuber in FALTER 12/2023 vom 22.03.2023 (S. 10)
So kurz vorm Ende der Wintersaison passiert noch ein Unglück. Zwei Einheimische sind beim Skifahren im freien Gelände von einer Lawine erfasst worden. Die junge Frau dürfte es überleben, ihr Freund ist vorerst unauffindbar. Eine große Suchaktion wird gestartet.
Dieser Stoff ließe sich zu einem Epos über Schönheit und Gewalt der Natur von Ransmayr’schem Pathos formen oder auch als Abrechnung mit der Tiroler Tourismusindustrie niederschreiben. Doch beides scheint Robert Prosser (Jg. 1983) nicht übermäßig interessiert zu haben. Er erzählt mit „Verschwinden in Lawinen“ lieber eine etwas andere Berggeschichte über Außenseiter, Einsiedler und abgelegene Orte.
Die österreichische Literatur kennt den Heimatroman und den Anti-Heimatroman der 1970er. In den letzten Jahren wurde es zusehends unübersichtlich.
Da erschienen plötzlich Anti-Anti-Heimatromane, deren Verfasser die Provinz wieder irgendwie super fanden, sowie neue Anti-Heimatromane, und manche Bücher wurden von der Kritik gar als Anti-Anti-Anti-Heimatliteratur klassifiziert.
Prosser nun, der in Alpbach aufgewachsen, in jungen Jahren weit gereist ist und sein Leben heute sowohl in Wien als auch in Tirol verbringt, nimmt eine selten gewählte literarische Route durchs Gebirg: Wertungsfrei und abseits von Klischees erzählt er von einer geradezu archaisch wirkenden Welt, die kaum jemandem bekannt sein dürfte.
Als Guide fungiert der Protagonist, ein Mittdreißiger namens Xaver, ehemaliger Koch und eine Art Tourismus-Dropout, bloß dass er sich das bisschen Geld, das er braucht, als Liftwart verdient. In seiner Freizeit hängt Xaver mit seinem alten Kifferfreund ab und träumt von einer Schauspielkarriere.
Die Erzählung führt uns durch unwegsames Gelände, wir begegnen einem „Anheber“, einem Naturheiler, der als Einsiedler in den Bergen lebt, auch Xavers Mutter hat sich auf eine Hütte zurückgezogen. Die Suche nach dem jungen Freerider weckt in Xaver Erinnerung an dessen Opa (Markenzeichen: Kosakensprung), der einst selbst in den Bergen verschwand.
Prosser ist ein kurzer Roman von beträchtlicher Sogwirkung gelungen, der durch genaue Beobachtungen und seinen angenehm ruhigen Ton besticht. Geschickt wechselt er zwischen Rückblenden in Xavers Jugend und der Gegenwart, in der Xaver das Versagen von einst zu korrigieren trachtet. Die Suche nach dem Vermissten gerät auf diese Weise auch zum Versuch, sich selbst zu retten.