

Meditieren zwei Punks in Venedig
Sebastian Fasthuber in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 9)
Die Bedeutung von ersten Sätzen für Romane wird bisweilen übertrieben. Es zählt schon auch, was danach kommt. Und doch ist das mal ein großartiger Einstieg: „So lange hatte ich über den Begriff der Seele gelacht, bis in meiner Hand die Hand meiner toten Mutter lag, noch nicht kalt, doch schon zu kühl.“
Leons Mutter ist nicht mehr. Sein Vater lebt zwar noch, ist für ihn aber gestorben, als er die Familie sitzen ließ. Der Oberösterreicher Stephan Roiss erzählt in „Lauter“ von einem etwa 30-Jährigen zwischen Wut über seine Umgebung und Wundenlecken. Denn Leon fühlt sich auch schuldig.
Als die Mutter stirbt, kehrt er um ein Eitzerl zu spät aus Kuba zurück, um sich noch von ihr verabschieden zu können: „Wir hatten sie allein gelassen, Vater schon vor vielen Jahren und ich gerade dann, als es darauf angekommen wäre.“
Das ist nun kein Stoff, der in irgendeiner Form neu wäre. Was Roiss aus dieser Konstellation macht, erweist sich jedoch als so kurzweilig wie originell und packend. Einnehmend ist zunächst das Tempo der Erzählung. Wenn es in Romanen um Themen wie das Gfrett mit der Herkunftsfamilie oder seelisches Leid geht, wird es oft episch und auch sehr gemächlich, um nicht zu sagen: fad.
„Lauter“ hingegen gibt gut Stoff, was auch am geschilderten Milieu liegt. Leon wurde sozialisiert in besetzten Häusern und alternativen Kulturzentren. Er hat in Punk- und Noisebands gespielt und ist immer noch musikalisch aktiv. Gern reist er als No-Budget-Tourist durch die halbe Welt.
Geld spielt keine große Rolle. Das bisschen, das er zum Leben braucht, verdient er als Musikredakteur bei einem freien Radiosender. Miete bezahlt er keine, weil er für einen Punkkollegen von einst, der jetzt in Venedig auf Buddhist macht, ein altes Bauernhäuschen hütet.
Es herrscht in diesem Roman kein Mangel an leicht bis mittelschwer schrägen Figuren mit Lebensläufen etwas abseits der gesellschaftlichen Norm. Eine Bandkollegin von Leon etwa beschäftigt sich in ihrer Arbeit als Künstlerin obsessiv mit Dübeln: „Vio erklärte mir, warum sie Dübel so geil fand. Der Dübel an sich sei polysexuell, eindringend und umhüllend zugleich, für die Wand ein Phallus, für die Schraube eine Vagina.“
Anton wiederum ist vor seinem Nazi-Vater geflohen und hat mit seiner kleinen Schwester jahrelang auf der Straße gelebt. Eines Tages wurde er vom Punk zum Sinnsuchenden und schließlich Buddhist. In seinem Haus hat sich Leon nun verschanzt.
Mit viel Mühe lockt ihn seine Band wieder aus dem Haus und zu einem Konzert. Die fulminante, trunkene Nacht beschließt Leon mit ein wenig Freiluft-Masturbation unterm Sternenhimmel zu beenden – da ertastet er etwas Seltsames. Die Diagnose folgt kurz darauf: Hodenkrebs.
Nun hält ihn nichts mehr in seinem Versteck. Er besucht Anton in Venedig, wo ihn dieser in einem extremen einwöchigen Meditationsmarathon zu einem neuen Menschen machen möchte. Alles soll er loswerden: „Deine Lebensangst, Leon. Die große Kränkung. Den kindlichen Trotz. Deine Gewissensbisse. Deine Mutter. Jetzt geht es erst richtig los!“
Leon ist das schon zu nahe an der Erleuchtung. Er reißt sich los, trampt durch Italien. Der Plot kulminiert auf der sizilianischen Vulkaninsel Stromboli. Dort soll ein Konzert vor gewaltiger Naturkulisse steigen.
Die Musikalität der Prosa von Stephan Roiss ist beachtlich. Seine Sätze geben einen schnellen Rhythmus vor. Auch der ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblick hat einen eigenen Groove. Außergewöhnlich ist, wie gekonnt er mit Lautstärke spielt, leise Passagen und Krach abmischt.
In „Lauter“ tobt der Lärm der Welt, von Konzertbühnen und in Leons Innerem. Die Stille muss dieser erst aushalten lernen. Und vor allem sollte er endlich mit seinem Vater reden.
Eine Rückkehr zu den unbeschwerten Momenten der Kindheit, als die Familie noch ganz war, ist unmöglich. Aber Leon versucht es verzweifelt: „Ich ahmte das Kind nach, das ich einst gewesen war: legte mich auf den Schlagbaum, suchte Futterkrippen auf und leckte an den Salzsteinen, kostete die Sonnenblumenkerne aus den Vogelhäusern, ließ Schneebälle gegen die Rinden klatschen. Vielleicht war ich gar nicht gewachsen, vielleicht waren die Dinge geschrumpft.“
„Lauter“ ist voll von solchen Bildern, Beobachtungen und Beschreibungen, die zum Innehalten einladen. Kurz nur, dann ergibt man sich wieder dem Sog der Erzählung. Roiss stand 2020 mit seinem Debüt „Triceratops“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein zweiter Roman löst das damals gegebene Versprechen ein.