

Der Bariton im Badewannenexil
Sebastian Gilli in FALTER 42/2024 vom 16.10.2024 (S. 19)
Zu seinem vierzigsten Geburtstag fallen Gäste ins Haus des berühmten Opernsängers Sebastian Saum ein. Doch der gefeierte Bariton wäre lieber alleine geblieben: „Überraschungspartys sollten verboten werden.“ Um Mitternacht stiehlt er sich fort und beschließt, nachdem er ein Schaumbad genommen hat, auch gleich in der Badewanne zu übernachten. Es plagen ihn große Zweifel: „Solide Berufe, die gänzlich ohne drohende Sinnfragen ausgeübt werden können, genießen meinen uneingeschränkten Neid. Ich als Sänger muss mich ständig fragen, wem ich wirklich nutze.“
Zu wessen Zweck und Nutzen der hochsensible Künstler für gut zwei Wochen in seinem selbstgewählten Badezimmerexil verbringt, ist Gegenstand des knapp 200 Seiten starken Künstlerromans „Do Re Mi Fa So“. Die in Zürich lebende Tine Melzer, Jahrgang 1978, hat mit ihrem Debüt „Alpha Bravo Charlie“ (2023) den Franz-Tumler-Literaturpreis gewonnen.
Ihr Folgeroman ist das Gegenteil eines Pageturners und versteht es dennoch gekonnt, die Leser auf das entschleunigte Erzähltempo und seine Sentenzen einzustimmen: „Freiwilligkeit ist das Gegenteil von Geborenwerden“ oder „Alleinsein ist eine gute Übung gegen die Einsamkeit“.
Die Partygäste fragen dann nicht mehr nach dem Gastgeber, und auch in den nächsten Tagen geht der Opernstar offenbar niemandem ab. Auch Melissa, die „große Liebe“, mit der er einst über ein gemeinsames Kind nachgedacht hat, meldet sich nur sporadisch. Sie hält Kontakt mit seinem Mitbewohner Franz und ist sich sicher, dass es Saum gut geht in seiner Wanne und in dem in einem Weiler gelegenen Haus, das er von der Mutter geerbt hat.
Der wortkarge Franz wiederum versorgt den Sänger aufopferungsvoll mit Essen und Getränken, die auf dem geschlossenen Klodeckel serviert werden, ist aber bald genervt „von der Freiheit, die ich mir nehme, nicht am Leben der Bekleideten teilzunehmen“.
Saums Versuch, „mit mir selbst auszukommen“, hat nämlich nicht nur den Rückzug aus der Gesellschaft und ins Badezimmer, sondern auch den Verzicht auf jegliche Kleidung zur Folge, die ihm dafür als Assoziationsvorlage für seine aufsteigenden Erinnerungen dienen: an die Kniestrümpfe der Kindheit, den Firmungsanzug, den Blaumann beim Handwerken …
Der Opernsänger, gewohnt mit jeder Rolle in ein anderes Kostüm zu schlüpfen, dreht sich nun „splitterfasernackt“ im „Kleiderkarussell“, was freilich nicht ganz ungefährlich scheint, denn Saum gerät – „niemand soll mir erzählen, dass Kleider nicht unheimlich sind“ – im Strudel seiner Assoziationen dem Wahn ziemlich nahe: „Ich versuche mich an alle Menschen zu erinnern, denen ich jemals begegnet bin, mit Vor- und Nachnamen.“
Der Roman, dessen Titel „Do Re Mi Fa So“ auf das „Alphabet des Sängers, der ich bin“ verweist, ist so kunstvoll wie klar gestaltet. Hier sitzt jedes Wort. Und in den Reflexionen des Ich-Erzählers, der mitunter auch ziemlich geschwätzig ist, pendelt die Autorin mit Humor und Sinn für Ironie zwischen den Möglichkeiten bzw. der Diskrepanz eines Lebens zwischen Opernhochkultur und dem einfachen Leben auf dem Lande.