

Graffitikünstler aus Beirut und Tiroler Deserteure
Sebastian Gilli in FALTER 41/2025 vom 08.10.2025 (S. 26)
Heimat, Fremde, Heimat: Ein Tiroler Weltenbummler recherchiert in Beirut zur libanesischen Kunstszene. Durch die Begegnung mit einem Graffitikünstler wird er an seine eigene Sprayer-Jugend erinnert: "Der erste Strich setzte etwas in Gang, das mich aus Tirol wegführte."
Doch nun kehrt er im neuen Roman von Robert Prosser zurück in sein Bergdorf im Alpbachtal, von wo auch der Autor stammt. Der Ich-Erzähler besitzt dort ein geerbtes Haus, das er als "Nutznießer der Puppenkulisse" an Gäste vermietet. In der touristenleeren Zeit will er in Ruhe schreiben. Er beschäftigt sich mit dem mysteriösen Maler Lenz, der von 1944 bis zu seinem Tod in dem Dorf lebte und zeitlebens das Bergmassiv Ackerzint gemalt hat. Jener Ackerzint, auf dem sich am Ende des Zweiten Weltkriegs das "Nest" befunden hat, ein Versteck von Wehrmachtsdeserteuren.
In den Gesprächen mit Einheimischen gerät der Erzähler tief hinein in die Geheimnisse des Hochtaldorfes. Er erfährt, dass sein Großvater als Aufpasser eines Lagers für Zwangsarbeiter in die Geschehnisse verstrickt war. Die akribische Ahnenforschung um Widerständler und Mitläufer wird zur kathartischen Suche nach dem eigenen Selbst.
Die Erkenntnis des Hobbyhistorikers: "Nicht die Toten verfolgen uns, sondern wir verfolgen die Toten." Die Recherchen im ersten Teil des Romans ähneln einer Reportage, in der Fakten und subjektive Eindrücke literarisch vereint sind. Im starken zweiten, erzählerischen Teil lernen wir die Figuren als Handelnde in ihrer Zeit - den letzten Kriegsmonaten -kennen.
Prosser ist ein formbewusster Autor. In seiner ungemein dichten und bedächtigen Sprache genügen ihm oft wenige Worte, um bildhafte Szenen und einprägsame Charaktere zu entwerfen. Dazu kommt ein Spiel mit Motiven wie dem "Gemälde zweier Hände" oder einer Schnitzfigur. Zumindest die Longlist zu einem großen Buchpreis hätte sich dieser Roman verdient.