

Über die Widersprüchlichkeit des System Viktor Orbán
Franz Kössler in FALTER 40/2025 vom 01.10.2025 (S. 24)
Wenn im April 2026 in Ungarn gewählt wird, trifft Viktor Orbán auf einen gefährlichen Herausforderer aus seinem eigenen Stall, der erst im vergangenen Jahr wegen eines Justizskandals mit ihm gebrochen hat: Péter Magyar. Die aktuellen Meinungsumfragen geben ihm gute Chancen auf den Sieg. Aber würde eine Wahlniederlage Orbáns auch sein in den Jahren aufgebautes korporatives und autoritäres System der "Nationalen Kooperation" in eine liberale Demokratie verwandeln?
Stefano Bottoni, ein italienischer Historiker mit ungarischer Mutter, der an der Akademie der Wissenschaften in Budapest gearbeitet hat und jetzt osteuropäische Geschichte an der Universität Florenz lehrt, ist vorsichtig. Dass Magyar ein charismatischer Politiker ist, der das System, das Netzwerk, die Korruption von innen kennt und aus konservativer Perspektive attackiert, mache ihn für Orbán gefährlicher, als es die zersplitterte linke Opposition je sein konnte.
Andererseits stamme er aus der politischen Bewegung Orbáns, eher aus der liberaleren Fraktion, eine Art junger Orbán. Eine liberal-demokratische Wende aber würde nachhaltige Veränderungen erfordern, denn zu sehr habe Orbáns "illiberale Demokratie" den ungarischen Staat autoritär umgebaut und die Gesellschaft geprägt. Bottoni sieht sie in der Geschichte und der Gesellschaft des Landes verwurzelt und im globalen Trend zu autoritären, rechtsextremen Regimen.
Anders als in der Tschechoslowakei oder in Polen sei der Übergang vom Kommunismus zur Demokratie 1989 in der ungarischen Gesellschaft kein radikaler Bruch gewesen. Nach Nato-und EU-Beitritt habe sich in der ruralen Mittelschicht die Enttäuschung über die Wirtschaftsliberalisierung und die westliche kulturelle Freizügigkeit breitgemacht. Orbáns Entwicklung sei in dieser Grundstimmung verankert, vom antikommunistischen Liberalen zum Berlusconi-Konservativen und schließlich zum Fürsprecher Putins und Vorkämpfer gegen die liberalen gesellschaftlichen Werte, die man bis zu Trumps Wiederkehr als westliche bezeichnet hat.
Wobei Bottoni die Widersprüchlichkeit des Orbán-Systems hervorhebt. Orbán forciert die nationale Souveränität, obwohl Ungarn von Investitionen und Absatzmärkten der EU abhängig ist. Er attackiert permanent die EU, obwohl er zu deren größten Subventionsempfängern zählt. Das Trianon-Trauma, nach dem Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Territoriums verloren hat, wurde von Orbán schon in seiner liberalen Phase zur nationalistischen Mobilisierung eingesetzt und schließlich mit der Staatsbürgerschaft für Ungarischsprachige in den Nachbarländern institutionalisiert.
Auch Orbáns berühmte Absage an die liberale Demokratie am 26. Juli 2014 fand im rumänischen Băile Tușnad statt, wo er "den Bruch mit den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien" verkündete, um Ungarn mit einem "neuen Staat im globalen Wettlauf wettbewerbsfähig" zu machen. Der postliberale Staat, der Institutionen, Medien und Zivilgesellschaft kontrolliert, anerkenne liberale Grundrechte wie die Freiheit, mache "diese Ideologie aber nicht zu einem zentralen Element der Staatsorganisation, sondern bevorzugt einen spezifischen nationalen Ansatz [ ]".
Bottonis politische Orbán-Biografie ist 2019 in Italien erschienen, wurde dann vom oppositionellen Verlag Alhambra/Magyar Hang veröffentlicht und wurde zum Bestseller. Die deutsche Ausgabe wird durch ein zusätzliches Kapitel aktualisiert.