

Die Geschichte von Madalyn und Moritz
Sigrid Löffler in FALTER 35/2010 vom 03.09.2010 (S. 28)
In "Madalyn" hat Michael Köhlmeier einen altbekannten Protagonisten zum Schutzbefohlenen eines jungen Paares gemacht
Michael Köhlmeier ist eine Art literarischer Bauchredner. Als Stil- und Stimmenimitator ist er unerreicht. Von Buch zu Buch wechselt er Tonfall, Erzählgestus und Prosastil, und das so gründlich und so kunstfertig, dass man ihn als Autor kaum wiedererkennt. Er ist ein Virtuose des wendigen (und zunehmend auch windigen) "Mal so, mal so". Über eine eigene unverkennbare Handschrift verfügt er nicht. Immer kann er auch ganz anders. Und das immer routinierter und in immer kürzeren Publikationsabständen.
Alles wird diesem Autor zum Stoff, alles lässt sich literarisch noch einmal umwälzen – Homer und die antiken Mythen, Shakespeare, die Nibelungen, die Bibel, das 20. Jahrhundert. Längst kann ein einzelner Verlag solchen Produktionsfuror nicht mehr bewältigen. Köhlmeier streut daher auf viele Verlage – Romane, Erzählungen und Nacherzählungen, Hörspiele, Kinderbücher, Songtexte, Theaterstücke, Libretti, Drehbücher. Hinzu kommt noch das permanente Recycling älterer Werke.
Man kann das bewundern. Man muss aber nicht. Man könnte sich beispielsweise auch wünschen, Michael Köhlmeier ließe jedes zweite Buch ungeschrieben. Dann gäbe es vielleicht "Madalyn" gar nicht – und ob das ein Verlust für die österreichische Literaturgeschichte wäre, bleibe dahingestellt. Zumal der Bauchredner Köhlmeier inzwischen bei der Imitation von Jugend-Trivialliteratur angelangt zu sein scheint.
Madalyn ist eine 14-jährige Wiener Schülerin, die in der Heumühlgasse wohnt, aufs Gymnasium in der Rahlgasse geht und sich erstmals verliebt, in den 16-jährigen Moritz. Weil sie sich mit ihren Eltern nicht versteht, zieht sie einen älteren Herrn in ihrem Haus, den Schriftsteller Sebastian Lukasser, ins Vertrauen. Der darf sich jetzt aus der Sicht des Mädchens und in allen banalen Details die Schluchz-und-Jauchz-Geschichte von Madalyn & Moritz anhören, obwohl er eigentlich anderes zu tun hätte: Er sitzt an einem Roman über einen jugendlichen Mörder. Den lässt er nun liegen, um Madalyns Geschichte getreulich aufzuschreiben.
Was ihn indes nicht hindert, auch über Moritz, das Scheidungskind, den Sitzenbleiber und jugendlichen Leichtkriminellen, erstaunlich detailliert Bescheid zu wissen. "Seine Mutter war mit einem andern Mann davon. Der Vater hatte wenig Zeit für seinen Sohn, und manchmal hatte er eine Freundin, dann war es noch schlimmer; er wollte Moritz nicht den Tag über allein lassen, und so gab er ihn zu seiner Schwester. An den Wochenenden holte er ihn ab. Moritz wollte seinen Vater nicht sehen, die schlechte Laune hielt er nicht aus, er wusste, die war nur seinetwegen. Am Margaretengürtel kiffte er sich mit Freunden das Hirn weg. Er habe den Falotten nicht mehr im Griff, sagte der Vater zu seiner Schwester."
Man wundert sich, woher der Herr Lukasser aus der Heumühlgasse (und aus dem Roman "Abendland") das alles wissen will. Noch mehr wundert man sich über seinen Schreibstil. Immerhin wird ihm bescheinigt, ein berühmter Schriftsteller zu sein und ein sehr umfangreiches Buch geschrieben zu haben. Soll man wirklich glauben, dass jemand mit einer derart stumpfen und achtlos hingehudelten Schreibe zu Autorenruhm kommen konnte?
Wir erfahren, dass Moritz treulos und außerdem ein notorischer Lügner und Angeber ist, was Madalyn eine Zeitlang großen Kummer macht und dicke Handygebühren verursacht, wegen der vielen SMS und der endlosen Telefonate. Herr Lukasser spielt ein bisschen Kuppler, aber das nutzt auch nichts. Die Verliebtheit vergeht. Madalyn zieht mit ihren Eltern nach Hongkong, und damit ist die Geschichte aus. Wir dürfen annehmen, dass Herr Lukasser zu seinem liegengelassenen Roman über den jugendlichen Mörder zurückkehrt.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht lässt Michael Köhlmeier wenigstens dieses Buch ungeschrieben.