

"Es gibt zu wenige intelligente Wüstlinge"
Sebastian Fasthuber in FALTER 6/2011 vom 11.02.2011 (S. 27)
Thomas Glavinic flirtet in seinem neuen Roman "Lisa" mit der Angst vor dem Unheimlichen und hilft mit Brachialhumor nach
Als "Heilbronner Phantom" oder "Frau ohne Gesicht" geisterte eine international gesuchte Verbrecherin zwischen 2007 und 2009 durch die Chronik-Meldungen in der Presse. Ihre DNA fand sich schon seit den frühen 90ern an zahlreichen Tatorten, etwa in Süddeutschland, Österreich oder Frankreich.
Die Frau schien fast wahllos Verbrechen zu begehen, wurde mit kleinen Diebstählen ebenso wie mit brutalen Morden in Verbindung gebracht und wechselte ständig ihre Komplizen. Wurden in einzelnen Fällen Schuldige dingfest gemacht, wollte sich niemand an eine Frau als Mittäterin erinnern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Zeitungen eine Superverbrecherin aus der Unbekannten machten und Verschwörungstheorien kursierten.
Jetzt geistert das Phantom als Lisa durch den gleichnamigen neuen Roman von Thomas Glavinic. "Der Popstar unter Österreichs Literaturheroes", wie der Rabenhof ihn in einer Aussendung nicht ganz unzutreffend tituliert, hat in seinen letzten Romanen "Die Arbeit der Nacht" (2006) und "Das Leben der Wünsche" (2009) sowie "Das bin doch ich" (2007) zwei Bereiche erkundet: die Angst vor dem Unheimlichen und Humor. In "Lisa" versucht er sich an einer Fusion.
Furcht trifft auf derbe Sager in der Gestalt des Ich-Erzählers, der sich wahrlich kein Blatt vor den Mund nimmt. Glaubt man seinen Worten, hat er nichts zu verlieren außer Schreckensbildern. Aus Angst vor Lisa, deren DNA nach einem Einbruch in seiner Wohnung gefunden wurde, hat er sich mit seinem achtjährigen Sohn in einer weit vom Schuss gelegenen, verlassenen Pension verschanzt: "Ich komme mir vor wie Jack Nicholson in diesem Film, wo er durchdreht, allein im Hotel mit der Frau und dem Kind, nur dass hier heißer Sommer ist und keine Frau und ich nicht durchdrehe."
Na ja, ein bisschen vielleicht doch. Um seine paranoiden Angstattacken einigermaßen in den Griff zu bekommen, macht sich der Held jede Nacht mit ordentlich Kokain ("Das Weiße ist ein Teil der Wirklichkeit, so wie Analverkehr und Wiener Schnitzel"), Whiskey und anderen Getränken dicht. Dann spricht er seine Gedanken in ein Mikro und sendet via Internet-Livestream an eine virtuelle Hörerschaft. Wichtig ist für ihn daran nicht so sehr, dass tatsächlich jemand zuhört. Es geht ihm um das Gefühl, sich frei und anonym mitteilen zu können.
In Rückblenden rollt er auf, wie er sich gemeinsam mit einem hartnäckigen Fahnder in eine Lisa-Obsession reingesteigert hat. Und obwohl seine Berührungspunkte mit ihren Verbrechen allenfalls marginal waren, ist er an einem gewissen Punkt fest davon überzeugt, sie werde ihn bald aufsuchen und zur Strecke bringen.
Die Isolation in der Einschicht und "das Weiße" erweisen sich natürlich nicht als rasend produktiv, was die Angstbewältigung angeht. Dafür wird es für den Leser streckenweise lustig. Das muss es auch. Sprücheklopfen hat ein Vakuum zu füllen, wo der Horror zu kurz kommt. Geschenkt: Nur weil der Typ paranoid ist, heißt es noch lange nicht, dass Lisa nicht hinter ihm her ist. Der um die Hauptfigur aufgebaute Angstkomplex wird aber leider nie ganz nachvollziehbar.
Um seine virtuelle Hörerschaft bei der Stange zu halten – eine Situation, vergleichbar mit der des Autors, der seine Leser auch nicht kennt –, gibt der Monologisierende seinen Senf zu Gott und der Welt ab. Das geht dann so: "Es gibt zu wenige intelligente Wüstlinge. Und zwar beiderlei Geschlechts." Oder: "Performancekünstler werden mit wenigen Ausnahmen wirklich nur die, die sonst gar nichts können." Glavinic rettet sich auf die Art irgendwie über die Runden. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er dem Ich-Erzähler, den er zu allem Überdruss Tom nennt, oft nur seine eigenen Ansichten unterschiebt.
Angst zu erzeugen, das gelingt ihm erst mit dem finalen Twist auf der allerletzten Seite. Da ist es schon zu spät. Was nimmt man sonst mit? "Lisa" ist höchstwahrscheinlich das erste belletristische Werk, in das der Ausdruck "Lochschwager" Eingang gefunden hat. Auch was.