

Der Beste macht das Hirn aus!
Sebastian Fasthuber in FALTER 32/2013 vom 09.08.2013 (S. 31)
Norbert Gstreins jüngster Roman "Eine Ahnung vom Anfang" denkt darüber nach, wie ein junger Mann aus der Bahn geriet
Die Zeit unmittelbar nach der Matura. Das Gröbste scheint man hinter
sich zu haben, vieles scheint möglich. In diesem Sommer tauchen Daniel und ein Freund mit dem Moped bei ihrem Deutschlehrer auf, der in einem alten Haus am Fluss wohnt. Es wird ein schöner,
intensiver Sommer; man liest, diskutiert, badet oder lässt die Zeit einfach verstreichen. Und vieles, fast alles erscheint möglich.
Zehn Jahre danach fragt sich der Lehrer und Ich-Erzähler, wie das mit Daniel so schiefgehen konnte. Am Bahnhof der kleinen Provinzstadt ist eine Bombe gefunden worden. Auf dem Bild der Überwachungskamera in der Zeitung glaubt er seinen ehemaligen Schüler wiederzuerkennen. Ist er in terroristische Kreise geraten? In einer langen Selbstbefragung versucht sich der Lehrer zu erklären, was jener Sommer in Daniel bewirkt haben mag.
Stimmt schon: Ganz einfach war der hochintelligente und schüchterne junge Mann nie. Seine Mitschüler verachtete er für ihre Gedankenlosigkeit, während er in seiner Sehnsucht nach dem Absoluten lange zwischen Mathematik und Religion pendelte.
Das Mathe-Studium bricht er schließlich ab, um sich in der Folge mit einfachen Arbeiten über Wasser zu halten, während seine Projekte und Ideale immer hochtrabender und unrealistischer werden. Nach zwei Israel-Aufenthalten verfällt Daniel schließlich der religiösen Schwärmerei, will nicht mehr denken, nur noch bedingungslos glauben.
Die Besuche beim Lehrer werden immer seltener. Daniel muss sich wohl einer
"Höhenkrankheit des Geistes" ergeben
haben, mutmaßt er. Klare Antworten, was mit dem jungen Mann passiert ist, findet er jedoch keine. Auch nicht in dem Romanmanuskript, das Daniel Jahre später über diesen einen Sommer geschrieben hat und das die Frage aufwirft, ob zwischen den beiden auch eine erotische Beziehung bestand.
Je tiefer man in den Roman vordringt, je weiter man dem Erzähler in seine Erinnerung folgt, umso unklarer wird vieles. Das liegt zum Teil daran, dass der Erzähler offenbar selbst kein ganz einfacher Zeitgenosse zu sein scheint: seine Familiengeschichte ist reich an Selbstmorden, er selbst ein Sturkopf, der sich mit Elternvereinen anlegt und vor versammelter Klasse schon mal darüber räsoniert, inwiefern die Sehnsucht nach Reinheit und Unschuld dazu verleitet, selbst Schuld auf sich zu nehmen.
War gar er es, der Daniel auf abwegige Ideen brachte? Auf die Erinnerung des Erzählers jedenfalls kann sich der Leser nicht bedingungslos verlassen, auch wenn der gleich auf der ersten Seite des Romans feststellt: "(
) auch wenn ich vieles davon vergessen geglaubt habe, kann ich meiner Erinnerung trauen."
250 Seiten später sieht er sich freilich zum Widerruf genötigt: "Ich habe allen Grund, an der Zuverlässigkeit meiner Erinnerung zu zweifeln."
Das ist typisch Gstrein: In kunstvoll ausgeführten Gedankengängen wird etwas angedeutet und umkreist, nur, um es dann wieder umso gründlicher auseinanderzunehmen. Das nährt den Wunsch, der Erzähler würde auch einmal auf den Punkt, die Handlung in die Gänge kommen. Zwar geht gegen Ende überraschenderweise doch noch eine Bombe hoch, aber mit Daniel hat die nichts zu tun.
"Eine Ahnung vom Anfang" ist ein Roman, der – wie man so sagt – mehr Fragen aufwirft, als er beantworten kann oder will. Eine davon wäre, was sich eigentlich ein Lehrer für seine Schüler wünschen soll; eine andere, was exzessive Lektüre bewirken kann.
Daniel hat sein ganzes Leben nach Romanen ausgerichtet. "Ich schätze, ich sollte glücklich sein", sagte er zum Lehrer einmal in jenem Sommer am Fluss. "In den Büchern wäre das einer der Augenblicke, nach denen ich mich später am meisten zurücksehnen würde."
Worauf der Lehrer antwortet: "Vergiss doch die Bücher."