

Mr. Refrigerator
Sebastian Fasthuber in FALTER 31/2019 vom 02.08.2019 (S. 29)
Norbert Gstreins „Als ich jung war“ ist weder Thriller noch #MeToo-Roman. Was ist er dann?
Zwei Suizide bilden die Einschnitte im Leben von Franz, dem Erzähler von „Als ich jung war“. Eine Braut stürzt in einem Tiroler Dorf wenige Stunden nach ihrer Hochzeit von einem Berg (war sie allein?). Ein Raketenphysiker begeht viele Jahre später beim Skifahren in den Rocky Mountains auf grausige Weise Selbstmord. Beide Male ist Franz in der Nähe.
Dazu kommen die paar Stunden, die er als junger Mann mit einem deutlich jüngeren Mädchen auf dem Schlossberg verbringt. Gegen ihren Willen küsst Franz sie, die zu dem Zeitpunkt nicht 17 ist, wie sie ihm erzählt, sondern noch keine 14. Als er das erfährt, bricht der verbummelte Student seine Zelte in der Heimat ab und wird Skilehrer in den USA. Das Mädchen bleibt in der Ferne seine große Obsession. Um diese drei Ereignisse kreist der neue Roman des in Hamburg lebenden Tiroler Schriftstellers Norbert Gstrein.
Streckenweise verfügt er über Pageturner-Qualitäten. Aber der Autor ist keiner, der einen auf Wirkung getrimmten Spannungsroman in der Manier seines Landsmanns Bernhard Aichner („Totenfrau“) schreiben würde, sondern Premium-Literat. Und so verliert sich die Spur des mehrfach angedeuteten Thriller-Plots am Ende. Die beiden Schlusskapitel bringen keinen Paukenschlag, sie wirken wie Fußnoten.
Typisch Gstrein. Ihm geht es nicht ums Aufdecken möglicher Geheimnisse. Seine Romane verweigern sich Gewissheiten und bieten keine einfachen Lösungen. In „Als ich jung war“ treten zwar ein österreichischer Kommissar und ein US-Sheriff auf den Plan. Doch sie führen ihre Ermittlungen alles andere als zielgerichtet. Ihr Hauptanliegen scheint zu sein, Franz zu sekkieren, ohne ihn wirklich je einer Straftat zu verdächtigen, und ihre Sprüche klingen, als wären sie einem alten Fernsehkrimi entstiegen. Der Autor signalisiert dem Leser: Hallo, Kunstfiguren! Ironie!
Der neue Gstrein ist also kein straighter Thriller, kein #MeToo-Roman und eher auch keine Liebesgeschichte. Aber was ist er dann? Mit gutem Willen kann man ihn als Meditation über das nicht Erzählbare lesen. Jeder Mensch verfüge über „ein Zentrum des Schweigens, ein Zentrum der Scham“ und eine Geschichte, die kein anderer hören solle, heißt es an einer Stelle des Romans. Das sagt der US-tschechische Wissenschaftler zu Franz, kurz bevor er sein Leben per Skisuizid beendet.
War der nette Professor, dem der Erzähler viele Saisonen als Privatskilehrer diente, ein geheimer Perverser? Durch den frühen Tod seiner Schwester hat er ein merkwürdiges Faible für Mädchen entwickelt und vor seinem Freitod gab es Gerüchte um ein Vergehen. Auf kunstvolle Weise spiegelt Gstrein die mutmaßliche Missbrauchsgeschichte des Erzählers in der des Professors. Auch in ihr bleibt so manche Frage offen.
Am stärksten ist dieser Roman, der oft dann abschlafft, wenn es plottechnisch interessant werden könnte, wenn sich Gstrein Erzählen ohne allzu viel Reflexion erlaubt. Atmosphärisch dicht und voll Tragik und Humor ist das Kapitel, in dem Franz mit einem dubiosen Fahrer die sterblichen Überreste des Raketenphysikers in einen anderen Bundesstaat bringt. Toll sind auch die Schilderungen des Lebens in den tief verschneiten Rocky Mountains. Einige Nebenfiguren bleiben blass, andere leuchten – so etwa Franz’ amerikanische Wirtin, die in ihrem Lokal ein strenges Regiment führt.
Eines Abends darf er Cathy küssen. Er scheitert kolossal. Franz kann nicht küssen. Als Erklärung wird angeboten, dass er einst im Internat von Mitschülern misshandelt wurde. Der Erzähler hat also sein Päckchen zu tragen, und es hat ihn ziemlich verkorkst gemacht. Dazu passt der altmodisch hochgestochene Ton, den er immer wieder anschlägt. Oder er verschweigt etwas Entscheidendes. An einer Stelle heißt es, manche Geschichten werden „nur erzählt, um andere Geschichten nicht erzählen zu müssen“. Was diese vom Roman ausgelassene Story sein könnte, wird dem Leser überlassen.
Zu den gelungeneren Spannungsmomenten zählt, dass Franz ein Erzähler ist, der sich nicht in die Karten schauen lässt. Er bleibt bis zum Ende vage, mit so etwas wie Figurenpsychologie kommt man bei diesem kühlen Typen nicht weit. Diese Undurchdringlichkeit weiß eine Zeit lang zu fesseln. Später wird es anstrengend, weil Franz sich nicht entwickelt, bis man schließlich das Interesse an ihm verliert und gar nicht mehr so dringend wissen will, ob er einem etwas verbirgt.
Der Roman „Als ich jung war“ ist ein ambitioniertes erzählerisches Unterfangen, das leider an Unterkühlung stirbt.