

Kommt der Syrer in das Land, dann gfrettet sich der Mittelstand
Klaus Nüchtern in FALTER 8/2018 vom 23.02.2018 (S. 30)
Der Covervogel kommt tatsächlich vor, und zwar auf Seite 271, wo der Ich-Erzähler seine Ankunft in Montreal verschläft und davon träumt, dass „ein riesiger Schwan“ sich auf dem zugefrorenen See vor seinem Haus in Hamburg „mit seinem Engelsgefieder in die Lüfte erhob“. Wie es mit der hanseatischen Präsenz des an sich in der Taiga beheimateten und im Winter gern am Bodensee abhängenden Singschwans (Cygnus cygnus) aussieht, sei dahingestellt. Das Vieh spielt trotz seines bedeutungsschwangeren Auftritts keine besondere Rolle. Dafür verfügt der jüngste Roman des wahlhamburgischen Ex-Tirolers Norbert Gstrein so ziemlich über alle Ingredienzien, die Aktualität und Welthaltigkeit verbürgen: Die Wahl Donald Trumps kommt gleich zu Beginn vor, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist das zentrale Thema, mit dem Klimawandel hat der Protagonist beruflich zu tun, und dem fragwürdigen Einfluss der Political Correctness auf den Wissenschaftsdiskurs sind auch vier Seiten gewidmet.
Damit ist freilich noch nicht viel gesagt. Die Sache ist nämlich die: Richard, der Ich-Erzähler, ist Glaziologe und der Mann von Natascha, einer erfolgreichen Schriftstellerin, mit der er eine Tochter hat. Als die beiden ihr selten benutztes „Sommerhaus“ am See einer Familie von syrischen Flüchtlingen zur Verfügung stellen, gerät die Ehe, um die es offenbar auch davor nicht zum Besten stand, etwas aus den Fugen, weil Natascha, die ihren Mann offenbar ein bissl für einen emotional vergletscherten Provinzdeppen hält, ihr Engagement medial und schriftstellerisch ausschlachtet, was Richard, der seine Frau anscheinend ein bissl für eine selbstgefällige narzisstische Funsen hält (was er aber nicht offen ausspricht, weil er ein bissl ein passiv-aggressives Simandl ist), nicht so gut findet. Als Leser ist man geneigt, beiden recht zu geben, was dem Lektürevergnügen nur bedingt zuträglich ist. Identifikationsfiguren sind die beiden jedenfalls keine.
Muss ja auch nicht sein. Es fragt sich bloß, was man stattdessen geboten kriegt. Der Plot hätte immerhin das Zeug zum Polit-Thriller. Eine Gruppe von Jugendlichen entfaltet gegenüber der Flüchtlingsfamilie einen nicht unbedingt subtilen, aber juridisch schwer belangbaren Psychoterror; Herr Farhi soll, Gerüchten zufolge, keineswegs politisch verfolgt worden sein, sondern dem Regime nahestehen – so wie im Übrigen auch seiner Quartiergeberin (jedenfalls scheint dies ein anonymes E-Mail anzudeuten, das an Richard ergeht).
Was hätte jemand wie der Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur David Mamet nicht aus dem Stoff gemacht. Norbert Gstrein aber trägt nachgerade penibel Sorge, dass so etwas wie Spannung allenfalls für kurze Zeit aufkommt. Die sehr spät ins Spiel gebrachte Pistole geht zwar pflichtgemäß los, aber alle ausgelegten Fährten verlieren sich, und keiner der Handlungsfäden wird vollständig abgewickelt. Das mag als skrupulöse Haltung verstanden werden, die den Lesern wohlfeile Eindeutigkeit und „billige“ Lösungen ersparen möchte. Das matte, mit einem Wust an Andeutungen und halbherzig bis gar nicht entwickelten Nebenhandlungen garnierte Drama über moralisches Mittelstandsbauchgrimmen ist aber auch kein befriedigender Ersatz.