

Kant in Häppchen
Andreas Kremla in FALTER 12/2024 vom 20.03.2024 (S. 29)
Bevor er ein gefeierter Schriftsteller wurde, hatte Daniel Kehlmann nach dem abgeschlossenen Philosophiestudium eine Dissertation über das Erhabene bei Immanuel Kant begonnen. Die nie fertig wurde, weil ihm sein erster Roman dazwischenkam. Omri Boehm lehrt und forscht als Associate Professor für Philosophie an der renommierten New Yorker New School for Social Research. Der deutsch-israelische Philosoph hat mit seinem Werk „Radikaler Universalismus“ Kants humanistische Ethik neu interpretiert und wurde dafür mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Für Kehlmann hat er Kant damit wiederbelebt: „Der Philosoph, dem ich durch Omri Boehms Vermittlung begegnete, war kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewunden trockener Sätze, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb.“ Zwei Tage lang sprachen die beiden daraufhin über Kant, Kehlmann auf Deutsch, Boehm auf Englisch. Aus den Aufzeichnungen dieses Dialogs (und der Übersetzung von Boehms Worten ins Deutsche) ist dieses Buch entstanden. Nein: Der Dialog ist das Buch; nachbearbeitet, verdichtet, ein wenig geschliffen wohl, aber ansonsten eins zu eins ein Dialog, in Schrift gesetzt wie ein Theaterstück.
Es treten auf: fast alle Themen, um die es Kant ging, in den Hauptrollen die ethischen Antworten auf die Frage „Was soll ich tun?“. Boehm und Kehlmann beginnen mit der Auseinandersetzung zwischen Natur und Freiheit, gehen ihren Weg durch Kants Gedankenuniversum über die Begriffe von Gott und Person bis zur Frage, was Denken sei.
Weiter geht’s zur Kritik der reinen Vernunft und deren Vorgeschichte, Kants Auseinandersetzung mit dem Empirismus des David Hume. Hier stellen sie die interessante Frage, ob Kant sein Hauptwerk verfasst habe, um die Gedanken der Aufklärung vor der reinen Lehre des englischen Empirikers zu schützen, vor allem vor Humes Negation jedweder Kausalität.
Der Abschnitt, in dem die beiden über Erkenntnistheorie sprechen, bringt denen, die Kants Kategorien schon einmal verstanden haben, eine angenehme Wiederholungsstunde. Für jene, die noch nicht die notwendige Muße hatten, über „synthetische Urteile a priori“ nachzudenken, ist es die Gelegenheit, dies hier in kürzerer Zeit und mit kürzeren Sätzen als im Original zu tun. Nach einem Akt über des Großmeisters schönste Fragen zur Ästhetik landet der Dialog samt Leser wieder bei der Ethik.
Wir erfahren, warum der berühmte „kategorische Imperativ“ – Kants Anspruch, dass jede Handlung einer Maxime folgen müsse, die ohne Ausnahme für alle gelten könne –, auch für himmlische Wesen und die „denkenden Ozeane“ aus Stanislaw Lems phantastischem Roman „Solaris“ gelten muss. Kniffliger wird es bei der Frage, ob man aus Menschenliebe lügen dürfe – die wohl alle Humanisten mit Ja beantworten, sobald es um das Verstecken eines Unschuldigen vor den Schergen eines totalitären Regimes geht. Doch Kant denkt anders – kategorisch. Der Grundsatz, die Wahrheit zu sagen, sei das Fundament der Vernunft. Die Vorstellung, dass Menschen überlegen, wann sie eine Verpflichtung zur Wahrheit hätten, würde Kant als ein Untergraben der Vernunft und damit des menschlichen Miteinanders sehen. Zwischendurch darf es auch mal um die schriftstellerische Kompetenz des als komplex geltenden Kant gehen – wie Kehlmann meint: „Zu Beginn konnte er noch gut schreiben. Dann hatte er Wichtigeres im Sinn als Stil.“
Die beiden Autoren bilden mit dem großen Philosophen ein Dreieck – wie mit einem fernen Punkt am Sternenhimmel, den Kant so oft betrachtete und bewunderte. Immer wieder dürfen auch andere Philosophen wie David Hume, Friedrich Nietzsche oder Martin Heidegger diesen dritten, fernen Standpunkt einnehmen. Gelegentlich stehen auch Schriftsteller im Fokus: Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewski lassen grüßen. Und manchmal erinnern sich die Autoren kleiner Dramen der Philosophiegeschichte: etwa, wenn die alten Freunde Friedrich Heinrich Jacobi und Gotthold Ephraim Lessing über die Gottesvorstellungen von Gottfried-Wilhelm Leibniz und Baruch de Spinoza streiten.
Das erfüllt die Lektüre mit Leben und macht sie weit mitreißender als viele Regalmeter von Werken, die über Kant dozieren; manche mögen sogar meinen, lebendiger als die Originale des großen Immanuel. Andererseits bleibt in diesem Konstrukt kein Eckpunkt mehr für die Leser:innen. Wären diese bei klassischer Wissensvermittlung der dritte Punkt des Dreiecks – gegenüber dem Autor und dem Thema –, ist der Leser hier Zuschauer eines Trialogs.
Doch in diesem Zuschauen liegt ein eigener Reiz, ähnlich jenem, den Kant selbst in seinen Betrachtungen des „dynamisch Erhabenen“ in der „Kritik der Urteilskraft“ beschrieben hat. Dort bringt er das Beispiel eines Beobachters, der auf einer Klippe sitzend ein Schiff auf dem stürmischen Meer beobachtet. Das Meer ist naturgemäß um ein Vielfaches stärker als das Schiff. „Dabei empfindet dieser Zuschauer ein Gefühl der Erhabenheit“, meint Kehlmann. „Kant sagt ausdrücklich […], dass man Zuschauer sein muss, um diese Erhabenheit zu empfinden. Wer auf dem Schiff ist, empfindet sie nicht.“ Ob man Letzteres als Leser vielleicht doch spannender fände, bleibt Geschmackssache.
„Der bestirnte Himmel über mir“ bietet Philosophiegeschichte im Kaleidoskop, doch in klarem Zusammenhang zu den Thesen Kants und zu sehr gegenwärtigen ethischen Fragen. Boehm und Kehlmann gelingt eine Auseinandersetzung mit einem der größten Denker, die zugleich lebendig und erhaben wirkt – und bei manch aktueller Frage sogar aufregend.