

Gut gegen Böse und noch etwas mehr
Christina Vettorazzi in FALTER 1-2/2024 vom 12.01.2024 (S. 29)
Der Krieg ist vorbei. Der böse König Galbatorix ist tot. Die Anführerin der Rebellen sitzt nun auf dem Thron. Außerhalb der Grenzen des Landes Alagaësia errichtet der Drachenreiter Eragon einen Hort für die neue Generation der Reiter und Drachen, nachdem der Tyrann sie beinahe ausrottete. Dort sollen sie vor neuen Machtkämpfen sicher sein.
Damit endet die Buchserie "Eragon". Die vier Bände des US-amerikanischen Autors Christopher Paolini wurden in 49 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit mehr als 40 Millionen Mal. 2006 kam die Verfilmung des ersten Buches in die Kinos, nun plant Disney+ eine Serie.
Mit seinem neuen Werk "Murtagh" knüpft Paolini, Jahrgang 1983, an die Geschichte von "Eragon" an. Während der Autor die Bände der Tetralogie mit einem maximalen Abstand von drei Jahren veröffentlicht hat, ließ er seine Fans nun zwölf Jahre warten, bis er die Fortsetzung "Murtagh" fertigstellte. In der Zwischenzeit erschienen unter anderem die Science-Fiction-Geschichte "Infinitum", in der er Drachen durch Raumschiffe ersetzte, und "Die Gabel, die Hexe und der Wurm". Dieser 304 Seiten starke Roman wirkt neben Paolinis anderen Wälzern eher schmächtig.
Sein neues Buch entspricht mit seinen 784 Seiten schon eher den Vorstellungen der Fangemeinde. Paolini ersetzt darin die einstige Hauptfigur Eragon durch den ehemaligen Nebencharakter Murtagh. Während Eragon als Bauernbub in Frieden aufwächst, lebt Murtagh seit seiner Geburt wie in einem Albtraum. Vom Vater beinahe ermordet. Vom einstigen König Galbatorix versklavt und als Kampfmaschine missbraucht.
Nun ist er zwar erwachsen, hat aber noch nie Freiheit und Unabhängigkeit erfahren. Während Paolini in "Eragon" die Rettung der Welt in den Vordergrund stellt, handelt es sich bei "Murtagh" vor allem um eine mit den Mitteln der Fantasy erzählte Coming-of-Age-Geschichte. Die Leserinnen und Leser verbringen viel Zeit mit dem Protagonisten sowie dessen Drachen Dorn und erleben so deren Reifeprozess.
Paolini begann 1998 mit der Arbeit am ersten Band der Eragon-Reihe. Der damals 15-Jährige lebte im US-Bundesstaat Montana auf dem Land. Die nächste Stadt war 30 Minuten mit dem Auto entfernt. Nachbarn gab es keine, und seine Eltern unterrichteten ihn sowie seine Schwester Angela zuhause. Paolini war ein Teenager, der Drachen liebte - und sich langweilte.
Er suchte nach einer billigen Möglichkeit, sich zu unterhalten, und begann, selbst Geschichten zu schreiben.
Seine Eltern halfen ihm, den Text zu überarbeiten und im Jahr 2002 im Selbstverlag Paolini International LLC zu veröffentlichen. Die Familie zahlte die 50 Exemplare der ersten Auflage aus der eigenen Tasche.
Statt ans College zu gehen, organisierte Paolini auf eigene Faust eine Lesereise durch die USA. Innerhalb eines Jahres stellte er "Eragon" in 135 Schulen, Büchereien und Geschäften vor. Davor rief er immer persönlich bei den lokalen Nachrichtensendern und Zeitungen an, um nachzufragen, ob sie ein Interview oder einen Bericht drucken würden. Und dann landete plötzlich ein Angebot in seinem eigenen Postfach. Es stammte vom Verlag Alfred A. Knopf, der zur renommierten Random-House-Gruppe gehört.
Der erste Band von "Eragon" erschien im August 2003 bei Knopf und landete kurz darauf bereits auf Platz drei der New York Times-Bestsellerliste in der Kategorie Kinderbuch.
Im Dezember kletterte das Werk hinauf auf Platz zwei. Im Jänner des folgenden Jahres überholte Paolini schließlich J.K. Rowling mit ihrem fünften Band der Harry-Potter-Serie. Bis Ende März 2004 führte der damals 20-Jährige das Ranking an.
Die Buchbranche feierte Paolini als Nachfolger von Rowling. Auch heute zählt der Autor zu den Erfolgreichsten des Fantasy-Genres. Wobei der Absatz der britischen Kollegin ungleich größer ist, verkaufte Rowling doch über 600 Millionen Exemplare. Die Harry-Potter-Reihe wurde in 85 Sprachen übersetzt. Zum Vergleich: Die deutsche "Tintenwelt"-Autorin Cornelia Funke zählt Übersetzungen in 50 Sprachen und etwa 31 Millionen verkaufte Exemplare.
Warum hat "Eragon" weltweit so großen Erfolg? Ein Aspekt sind wohl die Drachen, die in vielen anderen Geschichten als Feinde dargestellt werden und Verderben bringen. Bei Paolini verwandeln sie sich plötzlich in die besten Freunde eines jeden Lesers.
Die Geschichte ist spannend erzählt, es gibt eine klare Einteilung in Gut und Böse sowie ein Ziel, nämlich die Rettung des Landes Alagaësia.
Mit Eragon hat Paolini einen Helden mit einem klaren moralischen Kompass geschaffen. Kinder wollen sein wie er, während erwachsene Leser von der Figur auch genervt sein können; sie wirkt zu perfekt. Gleichzeitig enthält "Eragon" komplexe erzählerische Elemente wie die vielen überraschenden Wendungen. Für Leserinnen spielt zudem die Elfe Arya als starke weibliche Hauptfigur eine wichtige Rolle.
"Murtagh" zeigt Paolini in Bestform. Die zusätzlichen zwölf Jahre Schreiberfahrung haben seine Schreibkunst hinauf in die Ränge der High Fantasy gehoben. Der Plot lehnt sich an historische Heldenepik an. Ein Protagonist muss seine Ehre retten und sucht deshalb das Abenteuer. Außerdem schwindet die klare Gegenüberstellung von Gut und Böse. Manchmal scheint es sogar, als wäre Eragon Murtaghs Endgegner. Doch auf die finale Show müssen die Leserinnen und Leser noch warten. Das Ende ist offen und eine Fortsetzung möglich.
Ob der Autor eine solche plane? Bei der New York Comic Con verriet Paolini, dass er kürzlich eine Idee für ein neues Buch hatte, allerdings aus der Sicht von Eragon. Doch wer braucht noch Eragon, wenn es "Murtagh" gibt?