

Was war dein liebstes Kinderbuch?
Eva Konzett in FALTER 35/2019 vom 30.08.2019 (S. 40)
Der Schulstart ist auch ein Lesestart. Doch zu welchen Büchern greifen? Der Falter hat sich umgehört
Vom Lesen und (Vor-)Lesenlassen sollte man gar nicht genug bekommen. Wissenschaftlich gesehen ermöglichen Geschichten es schon Kleinkindern, ihre Konzentration zu trainieren, sich in andere hineinzuversetzen. Sie regen die Fantasie an und schulen den Wortschatz.
Geschichten aber sind vor allem eines: emotionale Trägerraketen. Sie lassen uns auf unbekannten Planeten marschieren, ermöglichen uns Superkräfte, setzen sich über alle physikalischen Gesetze hinweg, ohne dass man selbst sich groß bewegen müsste. Sie holen uns ab.
Lesen beginnt dabei lange vor dem eigenen Lesen (siehe Interview S. 43) und die Freude an der Geschichte hängt nicht an Lettern. Erzähungen haben Menschen schon geteilt, als sie noch keine Schriftzeichen kannten. Das Alte und das Neue Testament wurden über Jahrhunderte mündlich weitergegeben, bevor man sie aufschrieb.
Für 85.000 Tafelklassler beginnt ab kommender Woche die Schule. Sie werden mühsam lernen, wie man aus Buchstaben Wörter baut, als Belohnung wartet eine völlig neue Welt.
Mit dem liebsten Kinderbuch verhält es sich wie mit dem ersten Kuscheltier: Ganz lassen kann man davon nie. Spätestens wenn man zum Vorleser wird, holt man es wieder heraus. Deshalb hat der Falter zwölf Persönlichkeiten nach ihrem liebsten Buch aus Kindertagen gefragt. Und was sie heute mit ausgestrecktem Arm zwischen Polster und Nachttischlampe vorlesen.
Fritz Jergitsch: „Der alte und der junge und der kleine Stanislaus“ von Vera Ferra-Mikura
Tiefenentspannt segeln der alte Stanislaus und der junge Stanislaus und der kleine Stanislaus mit ihrem Papierschiff neuen Abenteuern entgegen. Weniger tiefenentspannt dagegen jene Mutter, die das mit kunstvollen Wortwiederholungen schwer übersättigte Buch vorlesen muss. Gebannt hängen beide Kinder an ihren entnervten Lippen und hören, wie der alte Stanislaus und der junge Stanislaus und der kleine Stanislaus ein Kätzchen aus dem Fluss retten. Unter großen Qualen rezitiert die Mutter die Heldentaten des alten Stanislaus und des jungen Stanislaus und des kleinen Stanislaus und stemmt sich mit den letzten Resten ihrer geistigen Resilienz gegen die Psychose. Gerne hätte sie ein der geistigen Gesundheit zuträglicheres Buch vorgelesen. Doch scheiterten alle Alternativvorschläge an den überzeugenden Gegenargumenten der Kinder (lautes Geschrei). Noch heute, so sagt die Legende, erscheinen ihr der alte Stanislaus und der junge Stanislaus und der kleine Stanislaus im Traum und verfolgen sie mit ihrem Papierschiff, bis sie schweißgebadet aufwacht.
Der Satiriker Fritz Jergitsch hat u.a. die Tagespresse gegründet
Schnittlauch und die Leichtigkeit des Seins
Sebastian Fasthuber in FALTER 46/2012 vom 16.11.2012 (S. 35)
Der alte Stanislaus, der junge Stanislaus und der kleine Stanislaus (Großvater, Vater und Sohn) leben mit ihren Frauen (Großmutter, Mutter und Tochter Veronika) in einem netten, kleinen Generationenhaus zusammen. Man greift sich gegenseitig unter die Arme, hat einen Kirschbaum, lässt das Gras hoch wachsen und holt die Kräuter, die Oma zum Kochen braucht, selbstverständlich auch aus dem eigenen Garten. So weit, so zeitgemäß!
Doch der erste Eindruck täuscht: Bei "Der alte, der junge und der kleine Stanislaus" handelt es sich mitnichten um ein heutigen Bobo-Fantasien entsprungenes Werk, sondern – Menschen deutlich jenseits der 30 werden sich erinnern – um einen österreichischen Kinderbuchklassiker, der heuer 50 wird. Mit den Stanisläusen feierte die Autorin Vera Ferra-Mikura (1923–1997) in den 1960er- und 1970er-Jahren große Erfolge. Auch wenn bisweilen leise Sozialkritik anklingt, erzählt Ferra-Mikura im Prinzip Geschichten aus einer heilen, intakten Welt. Hier war alles noch einfach, Probleme ließen sich umgehend aus der Welt schaffen. Im ersten von insgesamt sechs Bänden der Serie leben die drei Stanisläuse entspannt in den Tag hinein. Aus der "Zeitung von übermorgen" (die Autorin war dem magischen Realismus absolut nicht abgeneigt) falten sie Papierschiffe, und in einem davon, das sich plötzlich ausdehnt, unternimmt das Trio eine Flussfahrt. Nachdem einige Hindernisse umschifft worden sind, fällt den Stanisläusen gerade noch rechtzeitig ein, dass sie einen wichtigen Termin haben: Zu Mittag müssen sie zum Essen zurück sein, Oma wartet noch auf ihren Schnittlauch.
Die Männer haben ihren Spaß, während die Frauen zu Hause gut gelaunt ihren Hausfrauentätigkeiten nachgehen. Dass diese Rollenbilder schon recht angestaubt sind, ändert wenig am Zauber, den Ferra-Mikuras einfache, aber zu Herzen gehende Geschichten immer noch ausüben, weswegen sie auch in keinem Haushalt fehlen sollten. Und falls das Publikum nach ein paar Vorleserunden wieder etwas mit mehr Gegenwartsbezug, Action oder deftiger Gesellschaftskritik hören will, wird es sich schon von selber melden. (ab 5)