

Junges Blut für Bio-Einheimische
Nicole Scheyerer in FALTER 11/2021 vom 17.03.2021 (S. 10)
Klebrig rot leuchten die Tentakel des Sonnentaus auf dem Cover von Olga Flors neuem Buch. Die fleischfressende Pflanze wächst in Mooren und ist vom Aussterben bedroht. Insofern passt sie hervorragend zu den Bewohnern der Ortschaft Niedermoor, wo die bissige Dystopie „Morituri“ spielt.
Gefinkelte Naturmetaphern durchziehen den achten Roman der Grazer Autorin. Wenn Pflanzen, Landschaft oder Tiere vorkommen, geht es freilich nie um die „echte“ Bio-Natur, sondern stets um die schon zivilisatorisch kategorisierte, zurechtgestutzte und ausgebeutete Umwelt – und wenn es sich nur um einen Wassertropfen handelt, der als Spiegel für das dumme Treiben der Menschen herhalten muss.
Zu den „Todgeweihten“, wie der lateinische Titel übersetzt heißt, zählen eine gute Handvoll Charaktere, deren Situation und deren Anschauungen in kurzen Kapiteln geschildert werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie früher oder später mit dem Good Life Center in Kontakt kommen. Diese Klinik bietet eine vermeintlich lebensverlängernde Therapie an, soll in Wahrheit aber nur zum Zweck der Geldwäsche und der korrupten Bereicherung auf die grüne Wiese gestellt werden.
Maximilian ist der größte Loser in Flors Parade von Antiheldinnen und -helden, und gerade ihm räumt sie den meisten Platz ein. Der geschiedene Architekt, Hühnerhalter und Imker ist noch am wenigsten von allen auf den eigenen Vorteil aus. Und doch wird gerade er – wohl aus Einsamkeit und Neugierde – zum Blutsauger im buchstäblichen Sinne.
Immer wieder zweifelt Maximilian an der Sinnhaftigkeit seines Umzugs aufs Land. Aber eigentlich gibt es „das Land“ ja gar nicht mehr, denn schließlich sei die Folge der Globalisierung, „dass ÜBERALL die Provinz herrsche, globale Provinz, dass man ihr daher auch nicht entkommen könne, dass man hier nur ein bisschen deutlicher spürte, dass die Einöde im Kopf war und man sie stets mit sich schleppte“.
Die Antagonistin zu Depro-Max gibt „Gummistiefel“, eine superzynische Texterin für Politiker und Kapitalisten. Ihr Name leitet sich wohl von dem Umstand ab, dass sie durch einen Sumpf aus Machtgier und Reichtum watet. Gegen sie wirkt die bestechliche Bürgermeisterin fast schon gemütlich-rustikal. Wiegt die Korruption der Sprache für die Schriftstellerin mehr als alles andere?
„Morituri“ steckt voller Anspielungen auf die heimische Politik, etwa wenn ein „strahlender Jungpolitiker“ auf einem „Bilderbuchpapierberg“ vom Grenzschutz schwärmt. Oder wenn die Bürgermeisterin „beim Anblick des Präsidenten einen Akutorgasmus erleidet“ und einen Hofknicks macht. Bisweilen lässt sich die Erzählerin von ihren Assoziationen aber so sehr mitreißen, dass man vom Stakkato der Sprachfiguren aus der Bahn geworfen wird.
Auf Seite 120 taucht schließlich der „Attentäter“ auf, der den Romanfiguren 80 Seiten später den Garaus machen wird. Sein Weltbild ist so hasserfüllt, frauenfeindlich, xeno- und homophob, wie es nur sein kann. „Wir wollen keine Gleichberechtigung, wir wollen Rache!“, erklärt auch die Redenschreiberin im Romanfinale. Wiewohl das patriarchalische Geschlechterverhältnis regelmäßig in Jelinek’scher Manier dekonstruiert wird, bleiben sich Männer und Frauen in „Morituri“ nichts schuldig.
So virtuos, so bekannt. Ein neuer Raum tut sich in Flors streckenweise zäher Abarbeitung von Klischees im Rahmen einer experimentelle Verjüngungskur des Good Life Center auf. Bei dieser wird der weiße Maximilian zwecks Altershemmung an den Blutkreislauf des jüngeren, schwarzen Maurice angeschlossen. „Ich profitiere von der Aneignung fremder Körperzellen“, beschreibt der Weiße seine parasitäre Position gegenüber dem Schwarzen. Gleichzeitig bringt ihn der dubiose Biotransfer seinem Gegenüber auf eine so sensibel-intime Weise näher, dass er sich am Ende die philosophische Frage stellt: „Bin ich der Held meiner eigenen Körpergeschichte?“