

In der Jackentasche sitzt das tschechische Volk
Josef Gepp in FALTER 10/2010 vom 12.03.2010 (S. 16)
"Das Versprechen des Architekten" von Jiří Kratochvil ist eine grandiose Parabel über individuelle Schuld im Totalitarismus
Schuld ist eine komplexe Angelegenheit. Ganze Gesellschaften stecken in ihr wie in einem Sumpf – die einen bis zum Knöchel, die anderen bis zum Hals. Hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang rangen in den kommunistischen Diktaturen viele Menschen mit den Fragen: Wie viel Druck bin ich bereit zu ertragen, um sauber zu bleiben? Denunziere ich den Nachbarn, um der eigenen Familie Leid zu ersparen?
Diese Wucht der Schuldfrage kann wohl nur ermessen, wer selbst in einer totalitären Gesellschaft groß geworden ist. Wie der Schriftsteller Jirí Kratochvil, Jahrgang 1940. Kratochvil lebt in Moravský Krumlov, Mährisch-Kromau, nahe Brünn. Geprägt von der Intellektuellenszene im Brünner Untergrund wollte sich Kratochvil nicht mit dem System arrangieren. Als er nach dem Prager Frühling 1968 mit Publikationsverbot belegt wurde, verdingte er sich jahrzehntelang als Kranführer, Heizer oder Bibliothekar. Erst nach Wende wurde er – 1999 mit dem renommierten Jaroslav-Seifert-Literaturpreis ausgezeichnet – zu einem der bekanntesten tschechischen Schriftsteller.
Protagonist in Kratochvils großartigem neuem Roman "Das Versprechen des Architekten" – neben dem Erzählband "Brünner Erzählungen" soeben in deutscher Übersetzung erschienen – ist der Architekt Kamil Modràcˇek. Für die nazideutschen Besatzer errichtet er eine Villa in Form eines Hakenkreuzes, um seine Schwester aus dem Kerker der Gestapo zu befreien.
Der Deal klappt, doch nach dem Krieg wird Modràcˇek wegen des Hakenkreuz-Hauses vom kommunistischen Geheimdienst tB verfolgt. Der Verweis auf die seinerzeitige Zwangslage nützt ihm nichts, schließlich spielt der Roman "in einem Land, wo einem Beschuldigten überhaupt keine Schuld nachgewiesen werden muss, sondern, im Gegenteil, er verpflichtet ist, seine Unschuld zu beweisen".
Die Staatssicherheit verhaftet die Schwester erneut, und Modràcˇek dient sich in seiner Not dem tB an. Doch als die Schwester unter ungeklärten Umständen in der Haft stirbt, nimmt ihr Bruder, auf grausame Weise unverwundbar geworden, Rache.
All das beschreibt Kratochvil nicht etwa als Familienmelodram, sondern lakonisch, raffiniert, verspielt, und er entwirft dennoch ein vielschichtiges Bild seiner Protagonisten, ihrer Leidenschaften und Schwächen. Die Exkurse in die Kultur- und Stadthistorie lassen im Leser den Vorsatz reifen, Brünn – früher das "österreichische Manchester" genannt – ehebaldigst zu besuchen. Die zweite Romanhälfte ist absurd – auf eine postmoderne, parabelhafte Weise. Wieder fühlt man sich – in Erzählduktus und Handlung – an einen Film erinnert: Emir Kusturicas "Underground".
Nach dem Tod der Schwester findet Modràcˇek keinen ruhigen Moment mehr, empfindet Schuld. Da stößt er im Keller seines Zinshauses zufällig auf ein verborgenes Gewölbe, Teil eines teils unterirdischen mittelalterlichen Labyrinths. Modràcˇek entführt jenen tB-Offizier, der den Tod der Schwester zu verantworten hat, und sperrt ihn in den Keller. Die Polizei kommt ihm auf die Schliche, aber der Rächer entführt und inhaftiert auch den ermittelnden Beamten. Und so weiter.
Am Ende leben 21 Menschen in besagtem Gewölbe. Das Umfeld ist nicht gewalttätiger als der überirdische Realsozialismus; Kinder werden geboren, Ärzte und Köche versorgen die Entführtenkolonie. Modràcˇek kombiniert seine Rachegelüste mit architektonischen Visionen und errichtet eine "horizontale unterirdischen Stadt", sein Lebenswerk. Es ist eine "autarke Welt mit allem Drum und Dran", ein "Modell einer künftigen, besseren Gesellschaft" (die freilich auf Gewalt basiert), aber auch "nur eine Tasche in der Gefängnisjacke des weit größeren Gefängnisses, in welches das ganze tschechische Volk geworfen ist".
Lange nach der Wende werden sich in einer Art Epilog zum Roman zwei zeitgenössische Brünner über Kamil Modràcˇek unterhalten: Er sei nicht so wie die ganzen "Kellerperversen", wie etwa "dieser Fritzl aus Österreich". Im Vergleich dazu, erzählen sich die beiden Brünner, sei der Architekt Modràcˇek geradezu "ein gutmütiger, alter Kerl" gewesen.
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