

Das Erbe des Kriegs in Österreich
Erich Klein in FALTER 26/2014 vom 27.06.2014 (S. 12)
Über 1200 Seiten umfasst das Buch "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie", geschrieben von Manfried Rauchensteiner, der sich mit seinen Publikationen den Ruf als führender Militärhistoriker des Landes erwarb. 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs sprach er mit dem Falter darüber, was vom Krieg blieb.
Falter: Was sagen Sie zur großen Medienpräsenz des Ersten Weltkriegs?
Manfried Rauchensteiner: Es ist erstaunlich, welch ungeheure Leidenschaft dieses 100-Jahre-Gedenken ausgelöst hat. Ich kann mich an nichts Vergleichbares im Zusammenhang mit Kriegsende oder Staatsvertrag erinnern! Schauen wir, ob das über den Sommer hinweg anhält. Hier findet etwas mit enormer Breitenwirkung statt, von dem man nicht recht weiß, warum es stattfindet. Der Zweite Weltkrieg, der jahrzehntelang in der österreichischen Aufarbeitung so wichtig war, ist jetzt überhaupt nicht existent.
Ein Kuriosum vieler Diskussionen über 1914 ist das Wiederauftauchen der längst vergessenen "Kriegsschuldfrage". Der australische Historiker Christopher Clark muss sich fast dafür rechtfertigen, dass er die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg nicht nur bei den Deutschen oder Österreichern sieht.
Rauchensteiner: Eigentlich hat Clark in seinen "Schlafwandlern" nur die Verantwortung, die auch Russen, Franzosen, Briten und natürlich den Serben beim Ausbruch des Krieges zukommt, herausgearbeitet – es ging ihm vermutlich gar nicht darum, die Verantwortung des Deutschen Reiches zu negieren. Ich vermeide hier das Wort "Schuld". Sein Hinweis auf den auffälligen Verlust von Archivmaterial sowohl in Frankreich wie in Russland ist jedenfalls interessant.
Was halten Sie von Eric Hobsbawms Ausdruck "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" als Charakteristik des Ersten Weltkriegs?
Rauchensteiner: Herzlich wenig. Geht man der Sache nach, kann man es als einprägsame Beschlagwortung abtun. Im 20. Jahrhundert gab es allein bis zum Ersten Weltkrieg fast kein Jahr, in dem es nicht irgendwo Krieg gab. Mit den Balkankriegen fand eine Art Rückwendung nach Europa statt – eine Entwicklung, die sich schon seit 1904 abzeichnete. Damals begann Europa zu brodeln. Das Besondere an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs war der Umstand, dass sich auf den Krieg, der an der Peripherie zwischen Österreich-Ungarn und Serbien entstand, mehr oder weniger alle begierig stürzten. Es war die lange erwartete Gelegenheit, um einen Krieg zu beginnen, von dem wohl viele meinten, er sei unvermeidlich. Man kann den Ausdruck "Urkatastrophe" in einem philosophischen Zusammenhang sehen – für einen Italiener aber war der Erste Weltkrieg der vierte Einigungskrieg, auch wenn er unsäglich verlustreich war. Das dreigeteilte Polen fand damals zur Einheit, ebenso wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien. In den jeweiligen nationalen Überlieferungen hat das Wort "Urkatastrophe" also keinen Platz.
Vom Revival historischer Fotos abgesehen, die uns den Ersten Weltkrieg drastisch vor Augen führen, gibt es wenig direkte Verbindung mit jener Welt. Habsburg ist in Österreich heute nicht mehr als ein touristisches Markenzeichen.
Rauchensteiner: Es gibt unendlich viele Bezüge – aber sie werden nicht mehr wahrgenommen. Den wenigsten fällt ein, dass es in Österreich über 5000 Kriegerdenkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gibt. Es ist wohl so, dass wir uns nicht mehr in "Reichshaftung" sehen, wohl aber das Reichsgedächtnis bewahren. Wir haben in Wien Museen, Galerien und Bibliotheken – ein erheblicher Teil ist Erbe der Habsburgermonarchie. Dass all das aus einem großen Reich herrührt, wofür man auch eine Art Verantwortung zeigen sollte, das ist verschwunden. Jetzt muss ich ein wenig lästern. Im Zusammenhang mit diesem 100-Jahr-Gedenken gab es die Überlegung, all jene Staaten, die irgendwann Anteil an der Habsburgermonarchie hatten, zu einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung zu bringen. Es war völlig undenkbar!
Fragt man in Wien nach Erinnerungsorten für den Ersten Weltkrieg, kommt man nicht sehr weit.
Rauchensteiner: Ich habe mich in einer Lehrveranstaltung mit Studenten auf die Suche gemacht: Natürlich gibt es da Schönbrunn, das Belvedere, die Hofburgkapelle und die Friedhöfe. Geht man aber ins heutige Kanzleramt, wo im damaligen Ministerium des Äußeren der engste Berater des Kaisers saß, der in der Julikrise eine große Rolle spielte, hat man ein Problem. Niemand kann ihnen genau sagen, wo das Ultimatum ausgearbeitet oder die Proklamation "An meine Völker" verlesen wurde. Im Kriegsministerium am Stubenring befanden sich die Büros des Generalstabschefs – zur Not kann man noch erraten, von welchem Balkon der Armeeoberkommandant Erzherzog Friedrich gewinkt hat. Außerdem gab es zahlreiche Veränderungen, die sich als solche nicht mehr erkennen lassen. Geht man heute zum Heldendenkmal im äußeren Burgtor sehen wir den bereinigten Heldenkrieger, die Gefallenenbücher des Ersten Weltkriegs sind verschwunden.
Aus archivarischen Gründen? Vor einigen Jahren waren sie noch dort.
Rauchensteiner: Jemand hat herausgefunden, dass sich unter den Totenbüchern des Zweiten Weltkriegs, die da auch waren, ein SS-Angehöriger befand – der Bundesminister für Landesverteidigung ging hin und strich den Namen eigenhändig mit Kugelschreiber durch. Weil man schon dabei war, wurden auch die Totenbücher des Ersten Weltkriegs mitgenommen. Die für die Neugestaltung zuständige Kommission denkt jetzt seit zwei Jahren nach, was dort geschehen soll – heuer wäre ein guter Anlass gewesen.
In Ihrer Zeit als Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums gab es einige spektakuläre Erwerbungen, die mit Sarajevo zu tun haben. Seit wann befindet sich dort das Auto, in dem der Thronfolger erschossen wurde?
Rauchensteiner: Es kam schon im August 1914 ins Museum. Graf Harrach erkundigte sich in einem Brief an das Oberste Hofmeisteramt, ob der Kaiser geneigt wäre, das Auto, von dem er sich trennen wollte, anzunehmen. Es stand dann als zentrales Objekt in der Feldherrnhalle – in der Ersten Republik drehten sich alle Bemühungen des Museums um die Darstellung des noch nahen Ersten Weltkriegs. Später befand es sich im sogenannten Sarajevo-Raum, den ich 1998 umgestalten musste, weil neue Objekte dazukamen. Ich ließ damals auch die schwarzen Vorhänge entfernen und beendete damit die Staatstrauer, die dort nach Jahrzehnten noch immer bestand. Das hat mir ziemlich böse Kommentare eingetragen. Es gab später auch eine kuriose Geschichte um die Rückforderung des Sarajevo-Autos, die bis zum Obersten Gerichtshof ging. Die Argumentation lautete, Graf Harrach hätte es dem Thronfolger 1914 nur geliehen und dem Kaiser später nur geborgt. Mein schlichte Antwort war: Einem Kaiser borgt man nichts! Wirklich überraschend war die Sache mit dem blutigen Hemd des Thronfolgers. Der Jesuitenpater Anton Puntigam hatte es zusammen mit einer Schärpe der Herzogin von Hohenberg sowie einem Kopfkissen, auf das sie gelegt worden war, aus Sarajevo nach Wien mitgebracht und in seinem Orden verwahrt.
Sigmund Freud fühlte sich bei Kriegsbeginn erstmals als richtiger Österreicher, zahlreiche Intellektuelle waren kriegsbegeistert. Wer war damals in Wien eigentlich Pazifist?
Rauchensteiner: Alfred Hermann Fried, nachdem Bertha von Suttner im Juni gestorben war. Er konnte seine Friedens-Warte weiter herausgeben und legte in Ansätzen eine österreich-ungarische patriotische Haltung an den Tag. Man kann, was die Intellektuellen und Künstler betrifft, generell feststellen, dass es große Bereitschaft gibt, das bis dahin wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts zu reflektieren und auch künstlerisch zu verarbeiten. Bemerkenswert, dass ein Arnold Schönberg sehr wohl für den Krieg komponierte, Lehar vertonte Hugo Zuckermanns "Reiterlied". Man versuchte später in der Kunstgruppe des Pressequartiers unterzukommen, um dem Dienst an der Front zu entgehen. Die Zeit der Euphorie hielt nur eine Woche an – mit der Kriegserklärung Russlands mündete alles in andere Bahnen und wurde oft ideologisch unterfüttert. Für einen Karl Renner oder auch andere führende Leute der Sozialdemokratie wurde der Kampf gegen Russland zu einem Krieg gegen den Zarismus. Es gab kein Zögern mehr und man sprach vom gerechten Krieg.
Sie zitieren in Ihrem "Ende der Habsburgermonarchie" Georg Trakl, der kurz vor seinem Selbstmord im November 1914 angesichts der Gräuel des Krieges vom "Schmerz der ungebornen Enkel" spricht. Haben Sie diesen Schmerz je verspürt?
Rauchensteiner: Nein. Ich kann aber nicht erklären, warum. Mit meinem Vater, der noch im Ersten Weltkrieg war, bin ich eigentlich näher dran – mich trennt keine Generation von diesem Krieg. Komme ich zum Beispiel an die ehemaligen Kriegsschauplätze, ist da nichts, das eine nationalistische Unterfütterung bekäme, um zu sagen "Diese armen Deutschen!" oder "Diese armen Österreicher und Polen!". Manchmal entsteht vielleicht ein Bild – etwa auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden in Italien. Man kann sich schon vorstellen, dass sich die Toten dort fallweise noch bekämpfen. Als ich das erste Mal in diese Landschaft kam, bemerkte ich neben einem Friedhof einen Kindergarten und dann Kinder, die bei den Gräbern spielten. Ich sagte mir damals, es ist wohl das Schönste, was man sich für das Jenseits vorstellen kann: Kinder, die ohne jegliches Wissen an so einem Ort spielen. Wir können uns einem Geschehen wie dem Ersten Weltkrieg natürlich nicht in dieser Weise annähern, weil wir zu viel wissen. Aber man kann nicht durch die Geschichte gehen und ständig nur den Betroffenen machen. Das funktioniert nicht.
Im Land der Angefressenen
Josef Gepp in FALTER 42/2013 vom 18.10.2013 (S. 10)
Schlechtes System, blöde Politiker, totaler Stillstand: Immer mehr Menschen sind wütend über die Zustände in Österreich. Zu Recht?
Ein Gefühl schleicht durch Österreich. Es ist schwer fassbar, blitzt aber immer wieder auf. In Fernsehbeiträgen. In Zeitungsartikeln. Abends in einer Runde beim Bier. Das Gefühl ist Wut.
Zum Beispiel im Falter, vor wenigen Wochen. Da kam das Gefühl besonders stark zum Vorschein. Vier junge Intellektuelle erzählten vor der Nationalratswahl, wie sie zu Österreich stehen und was sie sich von der Gesellschaft erwarten. Die Befunde waren verheerend: Wer sie las, wähnte sich passagenweise in einem Land am Rand des sozialen Zusammenbruchs. Die politische Situation sei nur noch "zum Weinen", sagte einer der Diskutanten. Die Politiker: allesamt "lächerlich". Als "pervers" bezeichnete eine Befragte das Parteiensystem. "Ich hoffe, dass meine Enkel es einmal im Fach Geschichte und nicht im Fach Politische Bildung lernen werden."
Mit dieser Wut stehen die jungen Intellektuellen bei weitem nicht allein da. Worte wie ihre hört man oft, vielleicht immer öfter. Eine diffuse Wut greift um sich. Eine Fundamentalkritik an Politik und Staat. Ein tiefer Pessimismus. Eine eher unbestimmte, aber heftige Sehnsucht nach Aufbruch und Erneuerung.
Wohlgemerkt, diese Geschichte handelt nicht vom wütenden Ressentiment vieler FPÖ-Wähler. Die Fremdenfeindlichkeit und Verschwörungstheorien der sogenannten Modernisierungsverlierer sind eine andere Sache. Träger der Wut, um die es hier geht, ist vielmehr eine urbane, oft junge Bildungsschicht mit Abstiegsängsten. Sie fürchtet, es einmal nicht mehr so gut zu haben wie einst ihre Eltern.
Neben ihrer ständigen Klage über die blöden Politiker empört sie sich gern über das angeblich so primitive Debattenniveau in Österreich – und verweist auf die Zustände in Deutschland als leuchtendes Gegenbeispiel. Außerdem erbost sie kaum etwas so sehr wie die berühmten, halbgaren "österreichischen Lösungen", die dem Staat angeblich schaden. Stimmt das alles? Ist die Wut gerechtfertigt?
Quantifizieren oder messen lässt sich die Grundstimmung jedenfalls nur schwer. Einzig Umfragen über die Politikverdrossenheit geben Aufschluss darüber. So erhob das Meinungsforschungsinstitut OGM im Vorjahr, dass bei fast drei Vierteln der Österreicher das Vertrauen in die Politik in den vergangenen fünf Jahren zurückgegangen sei. 57 Prozent halten das derzeitige System sogar für "unreformierbar".
Ursache für den Pessimismus: der vielzitierte "Stillstand".
Dieser allgemeine Negativbefund wirkt sich massiv auf die politische Machtverteilung im Land aus: Mit 74,91 Prozent war die Wahlbeteiligung bei der vergangenen Nationalratswahl – wiewohl im internationalen Vergleich immer noch hoch – die niedrigste seit 1945. Auch die jungen Neos verdanken ihren Wahlsieg wohl zum Großteil ihrem Ruf nach Systemerneuerung; die Hälfte ihrer Wähler nannte "Protest" als Wahlmotiv. Und jetzt, wo dem Land erneut eine große Koalition ins Haus steht, erreicht die Klage über den gefühlten Stillstand in Medien und Öffentlichkeit wieder einen neuen furiosen Höhepunkt.
Wer verstehen will, wie es in Österreich tatsächlich aussieht, der muss die Gefühlsebene verlassen. Natürlich gibt es einen Reformstau in wichtigen Bereichen. Ärger ist gerechtfertigt, wenn es etwa um Österreichs unfaires Bildungswesen geht. Oder um undurchsichtige Verwaltungsabläufe. Um Klüngeleien, die Korruption begünstigen. Um die opportunistische, visionslose Europapolitik. Oder um die mangelnde Gleichstellung von Männern und Frauen.
Wenn man aber auf die Zahlen blickt, die beschreiben, wie gut es dem durchschnittlichen Österreicher geht und wie sich sein Wohlstand entwickelt – dann sieht die Sache anders aus. Diese Indikatoren sind etwa das Realeinkommen, die Arbeitslosenrate oder die Anzahl von Armutsgefährdeten, Teilzeitarbeitern und Working Poor. All diese Kennzahlen ergeben, mehr oder weniger, ein stimmiges Gesamtbild: Die Situation verschlechtert sich zwar allmählich. Aber sie ist immer noch sehr gut. Vor allem wenn man von außen auf Österreich blickt. Immerhin herrscht gerade die schwerste Wirtschaftskrise seit 1929.
Zum Beispiel das reale Einkommen eines durchschnittlichen unselbstständig Erwerbstätigen in Österreich. Dabei handelt es sich um rund vier Millionen Menschen. Wenn man die Inflation und Veränderungen am Arbeitsmarkt einberechnet, dann sank es laut Einkommensbericht des Rechnungshofs zwischen 1998 und 2011 um vier Prozent. Das ist deutlich weniger als in anderen Staaten. Dort brechen die Realeinkommen seit Ausbruch der Krise teils jedes Jahr um einige Prozentpunkte ein.
Oder die Arbeitslosenquote in Österreich. Sie hat sich seit dem Jahr 2000 nicht wesentlich verändert, trotz Krise. Derzeit beträgt sie 4,7 Prozent der Erwerbsfähigen. Das ist Platz eins in der EU. In Südeuropa liegt sie bei bis zu 27 Prozent. Selbst im boomenden Deutschland ist ein halbes Prozent mehr Menschen arbeitslos als hier.
Auch der Prozentsatz der Working Poor liegt im vielgelobten Deutschland fast doppelt so hoch wie in Österreich, seit SPD-Kanzler Gerhard Schröder vor einem Jahrzehnt mit seinem Hartz-IV-Programm rigorose Arbeitsmarktreformen durchsetzte. Hierzulande gelten laut Sozialministerium und Statistik Austria rund vier Prozent der Menschen als trotz ihrer Erwerbstätigkeit arm – das ist drittbester Wert in Europa. Auch wuchs die Zahl der armutsgefährdeten Österreicher in den Krisenjahren nicht, sondern ging leicht zurück. Und was Teilzeitarbeit und Prekariat betrifft, hält ein Bericht der Statistik Austria fest: "Es kann in Österreich von keiner eindeutigen strukturellen Verschiebung in Richtung Atypisierung gesprochen werden."
Was sagen all diese Zahlen? Natürlich veranlassen sie nicht zu Optimismus. Der normale Österreicher – einer, der mit einer unselbstständigen Beschäftigung ein durchschnittliches Einkommen von 24.843 Euro brutto im Jahr hat – scheint den Zenit seines Wohlstands überschritten zu haben. Auch hierzulande entkommt man nicht einem mächtigen internationalen Trend, den die kanadische Journalistin Chrystia Freeland als die "neue Gründerzeit" bezeichnet: der massiven Macht- und Kapitalumverteilung von Staaten hin zu einer übernationalen, global tätigen Elite. Allerdings – und das ist entscheidend: Bislang hält Österreich bemerkenswert gut dagegen.
Hierzulande wächst die Anzahl der Armen nicht – im restlichen Europa hingegen stieg laut Rotem Kreuz seit 2009 die Anzahl jener, die auf Nahrungsmittelspenden angewiesen sind, um drei Viertel. Hierzulande gibt es keine Massenentlassungen; kaum etwas an Infrastruktur verfällt; der soziale Frieden bleibt gewahrt. Für all das sorgten politische Unterfangen wie Kurzarbeit, staatliche Investitionen gegen die Krise oder breite Maßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit, etwa Ausbildungsgarantien. Freilich: Dass solche Aktionen überhaupt möglich waren, liegt weniger an der Brillanz der heimischen Regierungen – sondern am strukturellen Umfeld.
Im Gegensatz zu Ländern wie Spanien oder Griechenland hat Österreich noch Spielraum zum Investieren, ja generell zum politischen Handeln. Die enge Verflechtung mit Deutschland stimuliert die Wirtschaft. Für Stabilität sorgen zudem die Sozialpartnerschaft und ein starker betrieblicher Mittelstand, der nicht auf jede Zuckung der Märkte mit Panik reagiert. All das führt dazu, dass die Österreicher die Wirtschaftskrise im Alltag bislang kaum spüren. In Rankings und internationalen Medien wie Foreign Policy gilt das Land deshalb als Vorbild. Österreich – das ist das Land, in dem es die Krise nicht gibt.
Fazit: Trotz berechtigter Zukunftssorge, trotz legitimen Nachdenkens über Reformen ist erbitterte Fundamentalkritik am heimischen System nicht angebracht. Hemmungsloses Schimpfen über den totalen Stillstand und dumme Politiker? Nein, so schlecht waren Österreich und seine politische Kaste bislang wahrlich nicht.
Im Gegenteil, vielleicht hat die heimische Reformunwilligkeit sogar ein wenig dazu beigetragen, dass die Lage heute besser ist als anderswo. Denn all jene Staaten, die sich in den vergangenen Jahrzehnten massive Reformen verordneten – die also genau das taten, was so viele Österreicher herbeisehnen –, sind heute mit bestenfalls durchwachsenen Resultaten konfrontiert. Meistens gingen die Veränderungen auf Kosten der Mittelschicht und des breiten Wohlstands. Das zeigt sich etwa, so unterschiedlich die einzelnen Reformen auch waren, an Gerhard Schröders Deutschland, an Margaret Thatchers Großbritannien, an den USA unter Reagan und Clinton oder an den Staaten Südeuropas, denen Troika und EU Sparmaßnahmen aufzwingen. Hierzulande hingegen wurde keine Eisenbahn privatisiert und wurden keine Langzeitarbeitslosen mit Minijobs abgespeist. Die vielgeschmähten, halbgaren "österreichischen Lösungen" – vielleicht sind sie ja besser als ihr Ruf.
Bleibt zuletzt eine Frage: Wenn die Situation in Österreich besser ist als angenommen – woher kommt dann die pessimistische Grundstimmung? Nun, hier gibt es zwei mögliche Antworten: eine österreichische und eine europäische.
Die österreichische hat mit der spezifischen Geschichte dieses Landes seit Kriegsende 1945 zu tun. Über drei Jahrzehnte lang lebte das offizielle Österreich danach mit der Illusion, mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit nichts zu tun zu haben. Man richtete es sich in einem spießigen Biedermeier ein – bis in den 1980er-Jahren das Stillschweigeabkommen aufbrach. Rund um die Waldheim-Affäre entspann sich eine bissige Debatte, in der die Identität des Landes auseinandergenommen wurde. Es war, wenn man so will, eine Art Selbsttherapie. Lügen verloren ihre Maske. Die Selbstbeschimpfung wurde zur Königsdisziplin im Kulturbetrieb. Thomas Bernhard porträtierte die degenerierten österreichischen Provinzler; Elfriede Jelinek beschrieb die seelischen Abgründe der Wiener Bürger; die sogenannte Anti-Heimat-Literatur gilt bis heute als nationales Spezifikum. Seitdem redet auch manch kritischer Intellektuelle gern wie Bernhard und Jelinek. Allerdings: Inzwischen hat sich der Diskurs von seinem Ursprung, der Entlarvung von Lebenslügen, entkoppelt. Ausgerechnet das, was einst der Gesellschaft aus dem Sumpf heraushalf, hat sich heute verselbstständigt und ist zur zwecklosen Gewohnheit geworden.
Und die europäische Antwort? Die hängt mit der Krise zusammen. In dieser wird der Österreicher wohl mehr zum Europäer. Er hat Ängste und Sorgen der anderen Bevölkerungen übernommen. In deren sozialen Verwerfungen sieht er seine eigene Zukunft. Am Horizont merkt er bedrohlich den Wandel herannahen. Und die Schuld an all dem gibt er dann denen, die immer schon für alles verantwortlich waren: den wohlbekannten, nationalstaatlichen Politikern.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen:
Ging der Erste Weltkrieg von Wien aus?
Alfred Pfoser in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 45)
Geschichte: Fünf neue Bücher zeichnen ein komplexes Bild der Rolle Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg
Es kommt nicht oft vor, dass zeitgeschichtliche Bücher österreichischer Historiker aus jüngster Zeit hoch begehrt sind und beste Preise in den Antiquariaten erzielen. Trotzdem ist das mit Manfried Rauchensteiners Buch "Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg" lange Zeit passiert.
1993 bei Styria erstmals erschienen, war es jahrelang vergriffen. Das Werk des früheren Direktors des Heeresgeschichtlichen Museums war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung und ein gut lesbares Standardwerk mit anregenden Details; Militär-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte in einer kompakten Komposition.
Von Hader zu Hass
Jetzt gibt es bei Böhlau eine gründlich revidierte und erweiterte Neuauflage. Eigentlich ein mutiges Unterfangen, denn 20 Jahre Forschung haben neue Themen in den Vordergrund gerückt und andere Bewertungen produziert. Rauchensteiner hat das Dilemma in "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918" so gelöst, dass er lange Strecken fast unverändert übernommen, Fehler beseitigt und neue Kapitel und Textteile eingeschoben hat. Das Ergebnis: Bei diesem Überblick ist man noch immer sehr gut aufgehoben.
Wer kürzere, theoretische oder weniger detailreiche Schneisen durch das komplexe Geschehen erwartet, muss sich aber auf andere Autoren stützen. Wer eine radikalere Sicht auf die "Blutpumpe" des von Wien angezettelten Krieges haben möchte, für den ist eine Erstauskunft bei Karl Kraus darüber, wie dieser Krieg abgelaufen und was von ihm zu halten ist, noch immer unübertroffen – nachzulesen etwa in der gelungenen Kombination von Kraus-Texten und Fotos in dem von Anton Holzer herausgegebenen Bildband "Die letzten Tage der Menschheit".
Zu Recht betont Rauchensteiner, dass die nostalgische Memorierung der Habsburgermonarchie als Vorläufer der Europäischen Union ziemlich falsch liegt. Denn bei Ersterer ist der Auflösungsprozess unübersehbar. Der Weltkrieg, von dem sich Kaiser und Regierung eine Beseitigung nationaler Probleme erwarteten, erwies sich als deren fataler Beschleuniger.
Vor dem Krieg artikulierten sich im österreichischen Parlament unter den Volksvertretern Befremden, Misstrauen und Obstruktion. Während des Krieges entwickelte sich der Hader zu veritablem Hass, zuerst gegen die Serben, Italiener und Ruthenen als "innere Feinde", später dann gegen die Juden als "Kriegsgewinnler", gegen die Tschechen als "Hochverräter", gegen die Ungarn als egoistische "Schweinemagnaten" usw.
Den Völkern des Habsburgerreichs blieben nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 ohnehin nicht viele Gemeinsamkeiten. Eine solche Klammer, sicherlich die wichtigste, war die k.u.k. Armee. Rauchensteiner skizziert plastisch die inneren Spannungszustände und Auflösungserscheinungen der Armee mit mehr als acht Millionen Soldaten.
Kriegszitterer und Medaillen
Nach den herben Verlusten im Herbst 1914 gab es bei den Generälen massenweise Absetzungen, Rücktritte und Selbstmorde, über die nicht geredet werden durfte. Eine Million Soldaten kamen um, fast zwei Millionen kehrten verwundet heim, mussten vielfach als Invalide ein kärgliches Leben fristen, ihre Leiden wurden missachtet und kleingeredet, "Kriegszitterer" galten als Tachinierer.
Mit Dekorationen ging dagegen der Kaiser großzügig um, vier Millionen Tapferkeitsmedaillen wurden verliehen. Seit den Karpatenschlachten 1914/15 war der nationalistische Bazillus des Misstrauens auch ins Heer eingedrungen, Stand- und Feldgerichte wüteten gegen Desertionen und Selbstbeschädigungen, bis im Sommer 1918 der zuerst schleichende Erosionsprozess zu einem offenen wurde.
Rauchensteiner diskutiert unter diesem Vorzeichen die hohe Zahl der über zwei Millionen Soldaten, die in vor allem russische Kriegsgefangenschaft gerieten. Bei der deutschen Armee gab es sowohl an der Ost- wie an der Westfront weit weniger Verluste.
Ein düsteres Kapitel ist das Schicksal der Internierten, die auf Verdacht als "unzuverlässige Elemente" behandelt und in Internierungslagern und Konfinierungsstationen festgesetzt wurden. Hinzu kamen die insgesamt 550.000 meist mittellosen Flüchtlinge und "Zwangsevakuierten" aus den Frontgebieten, die in dem vom Krieg verschonten deutschsprachigen Zentralraum oft als lästige Esser, störende Fremdlinge oder "potenzielle Seuchenherde" behandelt wurden. Von einer solidarischen Völkerfamilie spürten diese Vertriebenen jedenfalls wenig.
Neu im Buch ist auch ein Kapitel über Kriegsgefangene in Österreich, die hungerten, in Erdlöchern wohnten, in Lager gepfercht wurden, an Krankheiten laborierten, an Seuchen starben, Bauern zugeteilt oder zu Bauprojekten herangezogen wurden – sowie eine ausführliche Betrachtung der Rolle von Kaiser Franz Joseph I.
Der greise Monarch wollte von Anfang an diesen Krieg, Zögern und Bedächtigkeit gab es nicht. Die Regie sorgte dafür, dass keine friedlichen Lösungen in Betracht kamen, diplomatische Interventionen unterbunden wurden. Franz Joseph administrierte die Kriegserklärung wie andere Schreibstücke.
Andere Neuerscheinungen befassen sich mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, vor allem dem verhängnisvollen Jahr 1914.
Der ermordete Thronfolger
In Wolfram Dorniks "Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf" gerät der Chef des Generalstabs der k.u.k. Armee ins Visier der Aufmerksamkeit (siehe Rezension in Falter 37/2013). Der ermordete Thronfolger Franz Ferdinand bekommt gleich mehrere Biografien. In "Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger" porträtiert der französische Historiker Jean-Paul Bled den in seinem Charakter bisweilen bizarren "verhinderten Herrscher". Wäre Franz Ferdinand wirklich der Monarch gewesen, der dem Vielvölkerreich eine zeitgemäßere Fassung hätte geben können? Bled zweifelt daran. Der Schock, den sein Tod auslöste, war jedenfalls enden wollend.
Ganz nahe an der Chronik dieser Tage erzählt Edgard Haiders "Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds" von frohen Festen und sauren Tagen, von technischen Neuheiten und dem Wandel im Stadtbild, dem Großstadtübel Müllabfuhr und der Obstruktion im Parlament, vom monströsen, luxuriösen Wirbel um die Uraufführung des "Parsifal" und vom alten, kranken Kaiser in Schönbrunn, um dessen Leben man bangt. Kurzweilig, anschaulich, in übersichtlichen kurzen Feuilletons führt uns Haider durch die 2-Millionen-Metropole, bevor er einschwenkt auf Julikrise und Kriegsausbruch.
Haider beginnt sein Buch mit dem Jahreswechsel 1913/14. Wiens bessere Gesellschaft champagnisiert in den Nachtlokalen, fährt auf den Semmering zum Skilaufen, vergnügt sich in den Theatern und Kabaretts und wünscht sich mit Gedichten, Glückwunschkarten und bei den üblichen Nachbarschafts- und Verwandtschaftsbesuchen ein gutes neues Jahr. Der Brauch, dass die Pummerin läutet, hat sich damals noch nicht eingebürgert, aber dennoch ergibt sich zu Mitternacht auf dem Stephansplatz ein so gewaltiges Gedränge, dass die Polizei einschreiten muss.
Die große Sensation des Tages ist Wiens erstes Kinetophon in den Tuchlauben-Lichtspielen; diese weitere Edison-Erfindung macht es möglich, ohne Klavier und Pianisten zum Film eine Tonbegleitung zu produzieren. Die Arbeiter-Zeitung erinnert daran, dass in den Vorstädten Elend und hohe Arbeitslosigkeit grassieren und die Teuerung den Leuten zusetzt.
Die Probleme des Balkans sind weit weg. An die Möglichkeit eines großen Krieges denken wohl nur ganz wenige an diesem Jahreswechsel. Im Juli ist es dann so weit.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: