

Spießer mit Bürgerallüren: Kronprinz Franz Ferdinand
Norbert Mappes-Niediek in FALTER 50/2013 vom 13.12.2013 (S. 21)
Zwei neue Bücher widmen sich dem 1914 in Sarajevo ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand, dem großen Unbekannten der Geschichte
Das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand hat zwar einen Weltkrieg ausgelöst, in der Öffentlichkeit aber viel weniger persönliche Erschütterung hervorgerufen als etwa der Mord an seiner Tante Sisi oder gar der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf. Viele sollen sogar froh gewesen sein, schrieb der Schriftsteller und Zeitzeuge Stefan Zweig.
Der Erzherzog "mit dem Bulldoggnacken" lächele nie, habe keinen Sinn für Musik und auch keinen für Humor. Die Tagebücher seiner Weltreise, aus denen neulich wieder Auszüge veröffentlicht wurden, zeigen den Thronfolger als hochmütigen Schwadroneur und liefern ihn dem Spott der Nachwelt aus. Auch wer sonst nichts über Franz Ferdinand weiß, hat meistens von seiner schon krankhaften Jagdleidenschaft gehört.
Er ballerte in seiner Umgebung auf so ziemlich alles, was sich bewegte und weder Uniform noch Reifrock trug, erschoss schon mal beim Spaziergang mitten im Satz eine Katze und erlegte so im Laufe seines 50 Jahre währenden Lebens gezählte 274.889 Tiere.
Obwohl um Fairness bemüht, tragen seine beiden neuesten Biografen Jean-Paul Bled und Alma Hannig nicht viel Positives über den Erzherzog zusammen. Mit der Propaganda der Habsburger ("Friedensfürst") sowie der Entente-Mächte ("Kriegstreiber") sind beide rasch fertig. Hannig beleuchtet ihren Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven, zitiert etliche neue Quellen, versagt es sich aber, die vielen Aspekte zu einer schlüssigen Charakterskizze zusammenzufügen.
Geizige Großmäuler
Wer ihn gut kannte und mit ihm befreundet war, resümiert Hannig ein wenig tautologisch, hielt ihn für einen intelligenten, lustigen Menschen. Mitarbeiter dagegen "hielten ihn für gefährlich und unberechenbar". Selbst legte Franz Ferdinand keinen Wert darauf, nett und beliebt zu sein. Karl Kraus schrieb, er sei "kein Grüßer" gewesen, was anerkennend gemeint war und ihn gegen die kitschige Wiener Volksseele abheben sollte. Aber ein einsames Genie war Franz Ferdinand mindestens ebenso wenig; die führenden Diplomaten seiner Zeit fanden ihn sprunghaft. Für seine Biografin bleibt er unter dem Strich "einer der großen Unbekannten der Geschichte".
Bled dagegen, emeritierter Historiker der Sorbonne, zeichnet den Thronfolger als eine Art bösen Spießer. Tatsächlich muss man kein Psychologe sein, um den Jagdfimmel als Vernichtungswunsch und seine Sammlerwut als anale Neurose zu deuten. Zum komplexbeladenen Kleinbürger passen auch der Hass auf die moderne Kunst, das Misstrauen gegenüber jedermann und der Antisemitismus – alles Eigen- und Leidenschaften, die wir eher in einer Wiener Vorstadt vermuten würden als in einem Herrscherhaus. Hannig widmet sich, dazu passend, dem Geiz des Thronfolgers, einer Eigenschaft, die für Bürger eine Tugend, für Aristokraten aber ein Laster ist. Sympathischer zwar, aber nicht minder kleinbürgerlich kommt Franz Ferdinands Entscheidung für eine unstandesgemäße Liebesheirat und trautes Familienglück daher.
Dass Franz Ferdinand Demokratie und Parlamente ebenso missfielen wie die nationalen Bewegungen unter "seinen" Völkern, lässt sich mit den Interessen eines habsburgischen Thronfolgers leicht begründen.
Nicht begründen lässt sich so, dass er gegen "die Ungarn" unter Preisgabe eigener Einflussmöglichkeiten ein ausgewachsenes ethnisches Ressentiment kultivierte. Auch die Italiener rangierten, nachdem sie den Heiligen Vater im Vatikan eingesperrt hatten, nicht sehr weit über den "Eingeborenen", die auf den Erzherzog auf seiner Weltreise "keinen besonders günstigen Eindruck" machten. Das befremdet doch sehr. Von einem autokratischen Herrscher würde man erwarten, dass er tatsächliche und potenzielle Untertanen nach ihrer Loyalität qualifiziert und ihm ansonsten egal ist, in welcher Sprache sie den Mund halten.
Leider bieten weder Bled noch Hannig, die beide reiche Belege für Franz Ferdinands Hass auf Ungarn, Freimaurer, Juden und Italiener bieten, da eine Erklärung. Vielleicht war es das Kennzeichen einer neuen Herrschergeneration, die nicht mehr so recht zum Zuge kam? Die alten Monarchen hatten entweder der Staatsraison noch ihr Innerstes, ihre Gefühle untergeordnet oder beides gar nicht als zweierlei wahrgenommen. Die neue Generation dagegen war entschlossen, ihr bürgerliches Ich, ihre Ideen und ihre Empfindungen gegen das Protokoll und die große Politik zu verteidigen. Statt sich selbst zu veröffentlichen, wie es ihre Altvorderen getan hatten, privatisierten sie so die Politik. Auch in Berlin hatten die Diplomaten der alten Schule ihre liebe Not damit, die unbändige Subjektivität des Großmauls auf dem Kaiserthron im Zaum zu halten. Franz Ferdinand und der deutsche Kaiser Wilhelm II. verstanden sich gut.
Wie wäre er als Kaiser gewesen?
Das Ende ihrer Bücher widmen sowohl Bled als auch Hannig der für Historiker tückischen Frage, was wohl passiert wäre, wenn man den Titelhelden 1914 nicht erschossen hätte.
Bled unterzieht sich der Aufgabe merkwürdig zaghaft und formal, Hannig geht beherzter daran. Viel aber kommt bei beiden nicht heraus: Hannig hält es für möglich, dass aus Kaiser Franz II. am Ende doch ein jüngerer, wenn auch nicht modernerer Franz Joseph geworden wäre. Wer im Lesemarathon zum Gedenkjahr ins Ziel kommen möchte, wird beide Bücher kaufen und seine Entscheidung auch nicht bereuen. Sprachlich hätte beiden ein wenig mehr Redaktion gutgetan. Wer nur einsteigen will, ist wahrscheinlich mit Hannig besser bedient: Sie erzählt farbiger, manchmal pointierter, hat Sinn für Anekdoten und kostet zehn Euro weniger.
Ging der Erste Weltkrieg von Wien aus?
Alfred Pfoser in FALTER 41/2013 vom 11.10.2013 (S. 45)
Geschichte: Fünf neue Bücher zeichnen ein komplexes Bild der Rolle Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg
Es kommt nicht oft vor, dass zeitgeschichtliche Bücher österreichischer Historiker aus jüngster Zeit hoch begehrt sind und beste Preise in den Antiquariaten erzielen. Trotzdem ist das mit Manfried Rauchensteiners Buch "Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg" lange Zeit passiert.
1993 bei Styria erstmals erschienen, war es jahrelang vergriffen. Das Werk des früheren Direktors des Heeresgeschichtlichen Museums war das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung und ein gut lesbares Standardwerk mit anregenden Details; Militär-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte in einer kompakten Komposition.
Von Hader zu Hass
Jetzt gibt es bei Böhlau eine gründlich revidierte und erweiterte Neuauflage. Eigentlich ein mutiges Unterfangen, denn 20 Jahre Forschung haben neue Themen in den Vordergrund gerückt und andere Bewertungen produziert. Rauchensteiner hat das Dilemma in "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918" so gelöst, dass er lange Strecken fast unverändert übernommen, Fehler beseitigt und neue Kapitel und Textteile eingeschoben hat. Das Ergebnis: Bei diesem Überblick ist man noch immer sehr gut aufgehoben.
Wer kürzere, theoretische oder weniger detailreiche Schneisen durch das komplexe Geschehen erwartet, muss sich aber auf andere Autoren stützen. Wer eine radikalere Sicht auf die "Blutpumpe" des von Wien angezettelten Krieges haben möchte, für den ist eine Erstauskunft bei Karl Kraus darüber, wie dieser Krieg abgelaufen und was von ihm zu halten ist, noch immer unübertroffen – nachzulesen etwa in der gelungenen Kombination von Kraus-Texten und Fotos in dem von Anton Holzer herausgegebenen Bildband "Die letzten Tage der Menschheit".
Zu Recht betont Rauchensteiner, dass die nostalgische Memorierung der Habsburgermonarchie als Vorläufer der Europäischen Union ziemlich falsch liegt. Denn bei Ersterer ist der Auflösungsprozess unübersehbar. Der Weltkrieg, von dem sich Kaiser und Regierung eine Beseitigung nationaler Probleme erwarteten, erwies sich als deren fataler Beschleuniger.
Vor dem Krieg artikulierten sich im österreichischen Parlament unter den Volksvertretern Befremden, Misstrauen und Obstruktion. Während des Krieges entwickelte sich der Hader zu veritablem Hass, zuerst gegen die Serben, Italiener und Ruthenen als "innere Feinde", später dann gegen die Juden als "Kriegsgewinnler", gegen die Tschechen als "Hochverräter", gegen die Ungarn als egoistische "Schweinemagnaten" usw.
Den Völkern des Habsburgerreichs blieben nach dem Ausgleich mit Ungarn 1867 ohnehin nicht viele Gemeinsamkeiten. Eine solche Klammer, sicherlich die wichtigste, war die k.u.k. Armee. Rauchensteiner skizziert plastisch die inneren Spannungszustände und Auflösungserscheinungen der Armee mit mehr als acht Millionen Soldaten.
Kriegszitterer und Medaillen
Nach den herben Verlusten im Herbst 1914 gab es bei den Generälen massenweise Absetzungen, Rücktritte und Selbstmorde, über die nicht geredet werden durfte. Eine Million Soldaten kamen um, fast zwei Millionen kehrten verwundet heim, mussten vielfach als Invalide ein kärgliches Leben fristen, ihre Leiden wurden missachtet und kleingeredet, "Kriegszitterer" galten als Tachinierer.
Mit Dekorationen ging dagegen der Kaiser großzügig um, vier Millionen Tapferkeitsmedaillen wurden verliehen. Seit den Karpatenschlachten 1914/15 war der nationalistische Bazillus des Misstrauens auch ins Heer eingedrungen, Stand- und Feldgerichte wüteten gegen Desertionen und Selbstbeschädigungen, bis im Sommer 1918 der zuerst schleichende Erosionsprozess zu einem offenen wurde.
Rauchensteiner diskutiert unter diesem Vorzeichen die hohe Zahl der über zwei Millionen Soldaten, die in vor allem russische Kriegsgefangenschaft gerieten. Bei der deutschen Armee gab es sowohl an der Ost- wie an der Westfront weit weniger Verluste.
Ein düsteres Kapitel ist das Schicksal der Internierten, die auf Verdacht als "unzuverlässige Elemente" behandelt und in Internierungslagern und Konfinierungsstationen festgesetzt wurden. Hinzu kamen die insgesamt 550.000 meist mittellosen Flüchtlinge und "Zwangsevakuierten" aus den Frontgebieten, die in dem vom Krieg verschonten deutschsprachigen Zentralraum oft als lästige Esser, störende Fremdlinge oder "potenzielle Seuchenherde" behandelt wurden. Von einer solidarischen Völkerfamilie spürten diese Vertriebenen jedenfalls wenig.
Neu im Buch ist auch ein Kapitel über Kriegsgefangene in Österreich, die hungerten, in Erdlöchern wohnten, in Lager gepfercht wurden, an Krankheiten laborierten, an Seuchen starben, Bauern zugeteilt oder zu Bauprojekten herangezogen wurden – sowie eine ausführliche Betrachtung der Rolle von Kaiser Franz Joseph I.
Der greise Monarch wollte von Anfang an diesen Krieg, Zögern und Bedächtigkeit gab es nicht. Die Regie sorgte dafür, dass keine friedlichen Lösungen in Betracht kamen, diplomatische Interventionen unterbunden wurden. Franz Joseph administrierte die Kriegserklärung wie andere Schreibstücke.
Andere Neuerscheinungen befassen sich mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, vor allem dem verhängnisvollen Jahr 1914.
Der ermordete Thronfolger
In Wolfram Dorniks "Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf" gerät der Chef des Generalstabs der k.u.k. Armee ins Visier der Aufmerksamkeit (siehe Rezension in Falter 37/2013). Der ermordete Thronfolger Franz Ferdinand bekommt gleich mehrere Biografien. In "Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger" porträtiert der französische Historiker Jean-Paul Bled den in seinem Charakter bisweilen bizarren "verhinderten Herrscher". Wäre Franz Ferdinand wirklich der Monarch gewesen, der dem Vielvölkerreich eine zeitgemäßere Fassung hätte geben können? Bled zweifelt daran. Der Schock, den sein Tod auslöste, war jedenfalls enden wollend.
Ganz nahe an der Chronik dieser Tage erzählt Edgard Haiders "Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds" von frohen Festen und sauren Tagen, von technischen Neuheiten und dem Wandel im Stadtbild, dem Großstadtübel Müllabfuhr und der Obstruktion im Parlament, vom monströsen, luxuriösen Wirbel um die Uraufführung des "Parsifal" und vom alten, kranken Kaiser in Schönbrunn, um dessen Leben man bangt. Kurzweilig, anschaulich, in übersichtlichen kurzen Feuilletons führt uns Haider durch die 2-Millionen-Metropole, bevor er einschwenkt auf Julikrise und Kriegsausbruch.
Haider beginnt sein Buch mit dem Jahreswechsel 1913/14. Wiens bessere Gesellschaft champagnisiert in den Nachtlokalen, fährt auf den Semmering zum Skilaufen, vergnügt sich in den Theatern und Kabaretts und wünscht sich mit Gedichten, Glückwunschkarten und bei den üblichen Nachbarschafts- und Verwandtschaftsbesuchen ein gutes neues Jahr. Der Brauch, dass die Pummerin läutet, hat sich damals noch nicht eingebürgert, aber dennoch ergibt sich zu Mitternacht auf dem Stephansplatz ein so gewaltiges Gedränge, dass die Polizei einschreiten muss.
Die große Sensation des Tages ist Wiens erstes Kinetophon in den Tuchlauben-Lichtspielen; diese weitere Edison-Erfindung macht es möglich, ohne Klavier und Pianisten zum Film eine Tonbegleitung zu produzieren. Die Arbeiter-Zeitung erinnert daran, dass in den Vorstädten Elend und hohe Arbeitslosigkeit grassieren und die Teuerung den Leuten zusetzt.
Die Probleme des Balkans sind weit weg. An die Möglichkeit eines großen Krieges denken wohl nur ganz wenige an diesem Jahreswechsel. Im Juli ist es dann so weit.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: