

„Wer bin ich, und wenn ja, wem sage ich es?“
Kirstin Breitenfellner in FALTER 11/2022 vom 18.03.2022 (S. 29)
Selbstfindung in der Jugend ist eine schwere Aufgabe, auch wenn man sich ganz „normal“ entwickelt. Umso mehr Anforderungen bestehen für jene, die sich deutlich von ihren Altersgenossen unterscheiden. Fabienne, genannt Fabi, ist so eine. Nicht nur ihre Familie findet, dass sie komisch ist, gerne übertreibt und wegen Kleinigkeiten ein Drama macht. Auch sie selbst merkt es. Sie mag keine Menschenmengen, vermeidet Blickkontakt und macht sich ständig Sorgen. Sie schläft schlecht, kann sich schwer konzentrieren und lächelt wenig. Für sie ist oft etwas falsch: zu heiß, zu weich, zu leise, zu laut.
Cornelia Travnicek macht in „Harte Schale, Weichtierkern“ die Innenwelt der 16-Jährigen plastisch, indem sie Fabi selbst zu Wort kommen lässt. Der Psychiater, bei dem die Jugendliche ohne Wissen ihrer Familie eingecheckt hat, hat ihr mit der Diagnose „Asperger“ diverse Aufgaben aufgetragen: Mindmaps zu zeichnen, Listen über Vorlieben und Abneigungen zu verfassen und ein Tagebuch zu schreiben.
Ein Tagebuch zu führen scheint ihr zwar „superberuhigend“, ihrem überkritischen Auge hält aber schon die Handschrift kaum stand. Nach und nach findet sie aber hinein in die Reflexion über ihr Leben und ihren Charakter. Einen festen Handlungsfaden gibt es nicht, dafür aber Beziehungen: zu ihrem Freund Marco, der sich zu Beginn des Buchs von Fabi trennt, oder ihrer besten Freundin Walli, deren Zuneigung Fabi sich nicht sicher ist – wie es ihr überhaupt schwerfällt, Menschen und die Bande zwischen ihnen einzuschätzen.
Dass aus dem Ganzen keine schwere Kost entsteht, dafür sorgen – für ein Jugendbuch ungewöhnlich – die durchgängigen Illustrationen von Michael Szyszka. In diesen spielt der titelgebende Oktopus eine Hauptrolle, bei dem das Gehirn – wie bei der hypersensiblen Fabi – über den gesamten Körper verteilt ist.
Der Hauptgrund für das Gelingen liegt aber in dem Sound, den Travnicek für ihre Heldin gefunden hat: unsicher und rotzfrech, tastend und treffsicher, ironisch und voller Ernst.
Dass Fabi nicht Asperger genannt werden will, liegt zum einem an dessen Namensgeber, dem Kinderarzt Hans Asperger (1906–1980), der in der Nazi-Zeit junge Patienten in die Euthanasieanstalt Am Spiegelgrund überwies. Asperger wird auch gerne „hochfunktionaler Autismus“ genannt, aber dieser hat keinen guten Leumund. Dabei gibt es viele bekannte Persönlichkeiten, die zu dem Spektrum zählen, von Albert Einstein über Anthony Hopkins und Elon Musk bis zu Greta Thunberg. Mädchen und Frauen können ihre Symptome übrigens besser verbergen und werden weniger oft diagnostiziert.
Fabi will aber auch einfach in keine Schublade gesteckt werden: „Ich will nicht, dass die Leute hinter meinem Rücken sagen, ich wäre irgendwie gestört. Da sollen sie lieber weiterhin denken, ich wäre eingebildet, unhöflich, berechnend, krankhaft ehrgeizig, überängstlich, schlecht gelaunt.“
Asperger ist keine Krankheit, sondern ein Syndrom. Und dieses hindert Fabi nicht daran, zu lernen, zu sich selbst zu stehen und an der Welt teilzunehmen. Sie fährt zu einem Musikfestival und reklamiert sich in eine von ihrer Freundin Walli geplante Reise hinein, beginnt eine Freundschaft mit ihrem Exfreund und lernt bei den Meetings von Asperger-Teenies einen jungen Mann kennen, der Meeresbiologe werden will.
Travniceks schmales und kluges Buch über ein noch zu wenig bekanntes Persönlichkeitsprofil schafft nicht nur den Spagat zwischen Literatur und Sachbuch, es vermag auch viel zwischen den Zeilen zu transportieren. Da in vielen Menschen eine hochsensible Person steckt, wird den allermeisten Leserinnen und Lesern die Innenwelt von Fabienne gar nicht so fremd sein.