

Einladung zum Werkstattbesuch
Julia Kospach in FALTER 42/2024 vom 18.10.2024 (S. 16)
Dreihundertfünfundsechzig Tage hat das Jahr. 365 kurze Texte enthält Monika Helfers neues Buch „Wie die Welt weiterging“, macht 768 Seiten. Ein wahrer Ziegel für die Vorarlberger Autorin, die dieser Tage ihren 77. Geburtstag begeht und ansonsten bekannt ist für ihre schmalen, verdichteten Werke.
Fast drängt sich der Gedanke auf, Helfer könnte eine Wette mit sich selbst abgeschlossen haben, ob sich dieses Projekt tatsächlich ein Jahr lang durchhalten lässt. Der Band hat jedenfalls etwas von einer Versuchsanordnung, vielleicht auch einem dichterischen Tagebuch, das vollgefüllt ist mit Einfällen, Gedanken, Skizzen, Notizen, Mini-Storys, Feuilletons, Kurzmärchen und -geschichten.
Auch thematisch ist so ziemlich alles enthalten, was einem im Laufe eines Jahres an Ideen, Erinnerungen und Beobachtungen unterkommen mag. Manches ist autobiografisch, anderes reine Fiktion, wieder anderes mischt Alltagsereignisse mit Assoziativem. Zahllose Figuren treten auf. Es gibt sehr viele Dialoge.
Der Vorschlag für die Lektüre lautet, nur eine oder einige wenige Geschichten auf einmal zu lesen. Andernfalls läuft man Gefahr, sich zu verheddern, und das Gefühl, dass aus diesem Sammelsurium auch dann kein rechtes Ganzes werden will, wenn man ihm eine Jahresstruktur unterlegt, verdichtet sich zunehmend.
Es stimmt: Monika Helfer ist eine Meisterin der kurzen Form. Besonders eindrucksvoll hat sie das in ihren autobiografischen Kurzromanen „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ unter Beweis gestellt, in denen sie ihrer Großmutter, ihrem Vater und ihrem Bruder hinreißende Porträts widmet. Wie dort ist Helfers Sprache auch hier einfach und eindringlich, von ruhiger, poetischer Genauigkeit.
Noch den aufwühlendsten Ereignissen – Tod, Entwurzelung, Krankheit, Unfall, Ungerechtigkeit, Liebesleid – geht sie in beinah dokumentarischer Kürze auf den Grund. Es gibt zahlreiche Storys, deren Ausgangspunkte zufällige Zusammentreffen mit Fremden sind – in Zügen, auf Bahnhöfen, beim Spazierengehen. Darüber hinaus finden sich auch märchenhafte Geschichten und solche, deren Personal und Setting an La Fontaine’sche Fabeln erinnern.
Ein wiederkehrendes Motiv ist der Tod: „Seit geraumer Zeit geht der Tod neben mir her, er überholt mich nicht, schleicht nicht hinter mir, ist einfach an meiner Seite, manchmal versucht er, die Hand nach mir auszustrecken, das erlaube ich nicht“, heißt es etwa in Geschichte 93 mit dem Titel „Im Sarg“.
Und natürlich geht es um die Liebe, um die seltsamen Beziehungskonstellationen, in die sich Menschen mitunter hineinmanövrieren. „Wollen Sie mir das wirklich erzählen, wissend, dass ich darüber eine Geschichte schreiben werde?“, fragt etwa die Icherzählerin von Helfers Tag-16-Geschichte „Erbärmliche Rache“. Was darauf folgt, dokumentiert den hohen Preis, den eine der Armut entkommene Ehefrau für eine materiell komfortable Existenz zu bezahlen hat.
Natürlich sind da auch einzelne Sätze, die sich einem beim Lesen nachhaltig einprägen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich für einen Mann entscheidet, der mit so vielen Worten so wenig zu sagen hat“, heißt es einmal über einen schlechten Liebesbriefschreiber. Ein anderer Text beginnt mit den Worten: „Als ich ein Kind war und geschichtensüchtig ...“
Auch das Schreiben selbst wird immer wieder zum Thema. Auf die Fragen einer 17-Jährigen, wie man es erlernt, antwortet die Icherzählerin von Tag Nummer 324 „Sag: Es regnet“ fast schon sentenzenhaft: „Viel lesen, die richtigen Sachen. Hemingway für das Dialogschreiben, Beckett für die Knappheit, Kafka fürs Geheimnis. Präzision ist in meinen Augen das Wichtigste. Lass alles Unnötige weg.“
Das klingt nach Werkstatt und Handwerk; und Einladung zum Werkstattbesuch ist vielleicht auch die beste Zusammenfassung, die den 365 so verschiedenen Texten doch noch gerecht wird.