

Waten durch den Sumpf der Unzumutbarkeit
Stephanie Doms in FALTER 11/2012 vom 14.03.2012 (S. 37)
Zeitdiagnose: Im vierten Band seiner Journal-Reihe gibt Karl-Markus Gauß den grantelnden Polemiker
Wer denkt, er wisse viel, kann sicher sein: Karl-Markus Gauß weiß mehr. Und so legen wir "Ruhm am Nachmittag", den vierten Teil von Gauß' Journal-Reihe, wortlos und etwas eingeschüchtert zur Seite. Immerhin hatten wir beim Lesen dieses klugen Buches den Einstein'schen weißen Wuschelkopf und Schnurrbart vor Augen, mit denen der renommierte Salzburger Autor in der Öffentlichkeit gern schulmeisterlich Respekt einflößt.
Doch: Wir sind nicht überzeugt. Die kurzen bis mittellangen Textstücke fügen sich, anders als individuelle und doch zusammengehörige Mosaiksteine, nicht wie selbstverständlich zu einem großen Ganzen zusammen, auch nicht im größeren zeitlichen Kontext der Nullerjahre, in dem das Buch inhaltlich ebenso angesiedelt ist wie die drei Vorgänger-Journale "Mit mir, ohne mich" (2002), "Von nah, von fern" (2003) und "Zu früh, zu spät" (2007).
Manches wirkt allzu bemüht zusammengezimmert, und die Fugen zwischen den einzelnen Teilen gelingen Gauß, der gewohnt sprachgewandt, mitunter aber in hals- und leselustbrecherischem Tempo durch die Geschichte holpert, nicht immer ganz sauber. Manche Fäden nimmt er hingegen einige Gedankensprünge später wieder auf, sodass wir uns ärgern, zuvor von einem hereinstolpernden Thema unterbrochen worden zu sein. Vergeblich bemühen wir uns passagenweise, den roten Faden nicht zu verlieren, und folgen den Ausführungen mitunter nur widerwillig.
Auch wettert Gauß im ersten der drei Teile, "Die Beteiligten und die Unbeteiligten", allzu aufbrausend gegen "Händler mit Träumen, Spieler mit Vermutungen, haltlose Gambler, die Realitäten schaffen und zertrümmern" – anders gesagt: die zahl- und namenlosen Akteure der Finanzwelt, die sich skrupellos mit nicht vorhandenem Geld auf Kosten der Unbeteiligten bereicherten und immer noch bereichern.
Geschmierte Politik-Bonzen und Volksverderber wie H.-C. Strache dürfen in dieser Abhandlung des Jahres 2009 natürlich ebenfalls nicht fehlen. Denn irgendwie ist das ja alles ein einziger großer, uferloser Sumpf der Unzumutbarkeit, durch den zu waten die unschuldigen Normalsterblichen gezwungen werden. Ja, ja, zweifellos ist das Zeitgeschehen eine Frechheit, und das Geschriebene löst beim Leser auch die erwartete Empörung aus.
Allerdings fällt diese müde aus. Denn die Art, wie Gauß seine Kritik äußert, kennt man schon von anderswo (nicht nur von Qualitätsblättern), sodass man sich mit jeder Seite zunehmend dagegen zu sträuben beginnt, wenn sich Gauß der pointierten Formulierung zuliebe zu allzu überspitzten Aussagen hinreißen lässt.
Sicher: Als bekennende Verachtende einer Welt, in der die "neue Elite, das Bündnis von Geld, Dummheit und Korruption" regiert, können auch wir selbst emotionale, übereifrige Äußerungen nicht immer zurückhalten. So werden wir denn einerseits in vielen unserer Ansichten bestätigt, andererseits jedoch fühlen wir uns aufgestachelt, während wir den argumentativen Tiefgang vermissen, den wir von einem leidenschaftlichen Kritiker wie Gauß erwarten dürfen. Vom gewitzten Zyniker zum grantelnden Kulturpessimisten und Polemiker ist es leider oft nicht weit.
Warum es trotzdem nicht verkehrt ist, sich bis zum Ende um den eigenen Lesewillen zu bemühen? Weil Gauß, der in diesem Buch Hochmut ganz ungeniert zu seiner persönlichen Todsünde erklärt, seine Meinung nicht durchgehend auf die eben geschilderte Weise kundtut.
Dass er seine erfolglosen Kämpfe gegen die "Dienstleistungsgesellschaft" sehr amüsant schildert und messerscharfe Kaffeehausgespräche eines betagten Ehepaares wiedergibt, versöhnt uns ebenso mit dem schwer einem Genre zuzuordnenden Journal wie die kaltblütige Ermordung eines bekannten venezianischen Krimiromanhelden namens Brunetti, der schon vor etlichen Fällen ausgedient hat (und dies endlich einsehen sollte).
Auch die eingestreuten Absonderlichkeiten (vom ORF-Programm bis hin zu Schweine tätowierenden oder öffentlich sterbenden Künstlern), die Beschreibung des von Gauß offenkundig bewunderten Schriftstellers Boris Pahor, die ohne viele Worte auskommt und uns dennoch ein lebendiges Bild dieses Mannes vermittelt, oder Gauß' nachvollziehbare Besessenheit von Literatur – diese Aufmerksamkeit für das oft unscheinbare Besondere macht das Buch schließlich doch noch sympathisch.
Denn an diesen Stellen blitzt ein Individuum auf, von dessen Sicht auf die Welt wir mehr erfahren wollen und das uns doch mehr zu bieten hat als eine ausgelutschte, geschmacklos gewordene Meinung zu den vermeintlich großen Themen des Lebens.