

Zwei Supernasen und ein wortloses Glück
Sebastian Fasthuber in FALTER 18/2024 vom 04.05.2024 (S. 31)
Es ist nicht das Sensationelle, auf den ersten Blick Besondere, das der reisende Schriftsteller Karl-Markus Gauß bei seinen Streifzügen sucht. Aber manchmal springt ihn das Außergewöhnliche regelrecht an.
Sein neues Buch hebt an mit dem Satz: „Die zwei längsten Nasen meines Lebens habe ich in einem Wagen der Berliner S-Bahn-Linie 7 zwischen den Stationen Westkreuz und Bahnhof Bellevue gesehen.“
Als geduldiger Beobachter fängt Gauß ein, was die meisten von uns übersehen, weil wir entweder gar nicht richtig hinschauen oder nur hastig. Gelungen ist eine Tour – häufig führt sie ihn durch die Peripherie Mittel- und Südosteuropas – für ihn dann, wenn er auf Schönes im Hässlichen stößt.
Die monströsen Zinken sind ein gutes Beispiel für seine Kunst. Zunächst erkennt Gauß darin nur grotesk übergroße Körperteile. Sie gehören zu zwei jungen Leuten. Der Betrachter vermutet, dass es sich um ein Außenseiterpaar handeln muss, „in einer tapferen Leidensgemeinschaft verbunden“.
Doch dann fällt ihm auf, ihr Blick ist „stolz, selbstbewusst, ein wenig überlegen gar. Die beiden wussten etwas, das die anderen nicht einmal ahnten. Sie wussten, dass sie die beiden schönsten in dieser S-Bahn waren, und dass es ihre Nasen waren (...), die sie so schön machten.“
Für all das benötigt es keine Sprache, die beiden Supernasen lächeln sich während der Fahrt nur selig an. Gauß beginnt das Buch also ausgerechnet mit der Schilderung eines wortlosen Glücks – ein seltener Zustand, höchst fragil. Er findet die richtigen Sätze dafür, die ihn nicht beschädigen.
„Schiff aus Stein“ ist der schmale Band des Salzburger Schriftstellers betitelt. Er enthält kurze Texte von etwa zwei bis sechs Seiten, die unterschiedlicher Natur sind. Neben Reiseszenen finden sich Lektürenotizen und Traumbilder. Mal verdichtet Gauß das pralle Leben auf engsten Raum, dann wieder passiert so gut wie nichts.
Der vor allem als Essayist bekannte Autor, zuletzt für „Die unaufhörliche Wanderung“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, feiert am
14. Mai seinen 70. Geburtstag.
Das Älterwerden spielt in „Schiff aus Stein“ keine große Rolle. Gauß spart es aber auch nicht aus. So berichtet er von einem Nahtodereignis, seinem Drehschwindel und von einem Traum, in dem er fürchtet (oder nicht eher hofft?), zu spät zu seinem eigenen Begräbnis zu kommen.
In Gorizia/Görz, an der Grenze Italiens zu Slowenien, wiederum betrachtet er das lebhafte Treiben in einem Straßencafé. Die Plätze sind ausnahmslos von alten Männern belegt. Auf einmal geht dem Besucher auf, „dass einer dieser alten Männer ich selber war“.
Ein Moment der Selbsterkenntnis. Natürlich ist kein Autor frei von Eitelkeit, auch nicht Gauß. Er stellt sich in diesen Texten jedoch fast nie selbst in den Mittelpunkt, bleibt lieber auf seinem Beobachterposten.
„Ich bin kein Wanderer und kein Flaneur“, gibt er als Selbstauskunft, „für jenen fehlt mir die sportliche Ambition, zu diesem der kulturelle Snobismus. Ich bin ein Geher und Schauer (...).“
Unterwegs begegnet er anderen Autoren und Intellektuellen. Öfter noch streift er scheinbar ziellos durch Randbezirke oder sieht sich an Orten um, die ihren einstigen Glanz verloren haben. Er sucht nach Material für sein Lebensprojekt „Über die Schönheit hässlicher Städte“. Gauß ist überzeugt, „dass es keinen Ort gibt, der es nicht wert wäre, durchwandert und erkundet zu werden, weil ein jeder sein Geheimnis und seine Geschichte hat (...).“
Ein Autor von diesem Rang schreibt keine Gebrauchsliteratur. Aber seine Bücher könnten Reisenden als Anleitung dienen, wie man sich auch durch die Welt bewegen kann.
Mit Gauß zu reisen heißt, das Tempo zu drosseln; zu warten, was der Tag einem zuträgt; die Langeweile lang genug auszuhalten, bis sich etwas ereignet. Ganz treiben lässt er sich jedoch nicht. Meist gibt es einen früh verstorbenen Dichter, dessen Spur er in einer Stadt verfolgt.
Beim Lesen gilt ebenfalls: Gemach! Am besten nur ein, zwei Texte auf einmal, sonst entgehen einem Details. „Schiff aus Stein“ empfiehlt sich damit als anregende Kurzlektüre für unterwegs. Auch auf die Gefahr hin, mit dem Buch vor der Nase etwas zu übersehen.