

Historisches Kammerspiel eines großen Moralisten: Der neue Hochgatterer
Erich Klein in FALTER 31/2017 vom 04.08.2017 (S. 24)
Geschichten über die Nazizeit haben ein Problem: Man weiß, wie sie ausgehen. Mord und Totschlag, Hitler und Holocaust. Es gebe schon zu viele Gräber in den Lüften, meinte einmal der Historiker Raul Hilberg über die Flut künstlerischer Arbeiten über die Barbarei der Nazis. Deren Erkenntniswert sei gleich null. Der Autor und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer hebt in „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ mit einem umstandslos schönen Satz provokant anders an: „Die Schwalben sind da.“ Die ländliche Idylle mit brotbackender Bäuerin verwandelt sich sogleich in rüdes Gezänk streitender Mädchen. „Wonach riecht Mehl“, fragt Nelli, die Protagonistin, scheinbar geistesabwesend. Darauf Antonia: „Halt die Pappen!“ Paulus Hochgatterer beherrscht nicht nur die Kunst der Dialogführung, er weiß auch, wann Umgangssprache angebracht ist.
Schauplatz des ruralen Disputs ist ein Ort im niederösterreichischen Mostviertel im März 1945, das Kriegsende naht. Die 13-jährige Nelli ist nicht nur Hauptfigur, aus ihrer Sicht wird die Geschichte auch erzählt. Ihre Familie, donauschwäbische Flüchtlinge, kam bei der Bombardierung des nahen Nibelungenwerks in Herzograd um, also wurde sie von den Leithner-Bauern zusätzlich zu den eigenen fünf Töchtern in Pflege genommen. Der immer wieder aufgegriffene Streit der Mädchen handelt von Eifersucht; Nelli, die Fremde, dürfe die Bäuerin nicht „Mutter“ nennen, heißt es einmal.
Der Autor zieht den Leser von der ersten Zeile an in den Bann seiner knapp über 100 Seiten lange Erzählung. Anhand weniger Personen, meist nur in kurzen Andeutungen geschildert und wie in einem Kammerspiel auf engstem Raum komprimiert, wird ein Panorama der letzten Tage des Dritten Reiches und der Normalität des Alltags im Ausnahmezustand entworfen.
Angst ist allgegenwärtig. Der einzige Sohn der Familie ist eingezogen. Dass er in der Ardennenschlacht gefallen ist, weiß nur der alte Laurenz, der die Nachricht allerdings verheimlicht. Selbstredend gehört zum Österreichporträt des Jahres 1945 auch ein Nazibonze, der mit Frontdienst oder dem KZ Dachau droht, sollten die Leithners die vorgeschriebene Verdunkelung in Zukunft nicht einhalten. Und wie aus dem Nichts taucht ein weißrussischer Flüchtling auf, der sich im Heustadel des Bauernhofes einrichtet.
Die verschiedenen Perspektiven der einzelnen Figuren fügen sich zusammen und die Spannung der Erzählung wird noch einmal gesteigert, als ein amerikanischer Bomberpilot im süditalienischen Foggia startet. Noch feixt Benjamin Shaffer mit seinen Kameraden auf dem Flug Richtung Linz, über Amstetten wird er abgeschossen. Er kann sich aber mit dem Fallschirm retten, aber der Pöbel massakriert ihn. „So wäre es am ehesten gewesen“, wirft die Erzählerin an dieser Stelle abrupt ein, um die Geschichte in der Geschichte sogleich zu einem anderen, möglicherweise glücklichen Ende zu führen. Zum Beispiel hätte der örtliche Apotheker, der durch den Abschuss in seinem Schäferstündchen mit der Hutmacherin gestört wurde, einschreiten und den Kriegsgefangenen retten können.
Der Autor liefert fünf kontrafaktische Versionen des Geschehens, um das Spiel mit dem Was-wäre-gewesen-wenn voranzutreiben. Wer sagt eigentlich, dass alles nicht anders hätte sein können? Als sich drei Wehrmachtssoldaten auf der Flucht vor den nachstoßenden Russen Richtung Westen am Bauernhof einquartieren, kommt es zum großen Showdown. Auch der titelgebende Großvater kommt jetzt mit einem scheinbar harmlosen „Schämen Sie sich nicht!“ zu seinem Recht.
Paulus Hochgatterers „Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war“ ist nicht nur eine stilistische Glanzleistung. Die dem Leser suggerierten Modellsituationen, wie in Zeiten des Terrors auch agiert werden könnte, weisen den Autor als großen Moralisten aus. Auch wenn sich dadurch die Erzählung zur Parabel verwandelt und eine gehörige Portion Metaphysik ins Spiel kommt, am Umstand, dass es sich um ein Meisterwerk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur handelt, ändert das nichts.