

Die bittere Süße des Lebens
Sebastian Fasthuber in FALTER 38/2019 vom 20.09.2019 (S. 35)
Düsternis: Paulus Hochgatterer besucht in seinem neuen Roman wieder die Kleinstadt Furth
Gegen Ende von Goethes „Faust“, der Tragödie erster Teil, dringt Faust mit Mephistos Hilfe in Gretchens Kerker ein. Als er das Schloss öffnen will, vernimmt er Gesang. Aus Margaretes Mund dringt die Stimme ihres getöteten Kindes: „Meine Mutter, die Hur / Die mich umgebracht hat! / Mein Vater, der Schelm / Der mich gessen hat! / Mein Schwesterlein klein / Hub auf die Bein / An einem kühlen Ort; / Da ward ich ein schönes Waldvögelein; / Fliege fort, fliege fort!“
Die gute Nachricht zuerst: Der neue Roman des Kinderpsychiaters und Autors Paulus Hochgatterer heißt „Fliege fort, fliege fort“, doch es sterben darin keine Kinder. Die schlechte: Dafür werden sie zu Krüppeln gemacht. Die Anfangsszene dreht das Rad der Zeit ein paar Jahrzehnte zurück. Ein Bub, der bereits den harten Weg von einer Familie mit untragbaren Verhältnissen über eine noch schlimmere Pflegefamilie ins Kinderheim hinter sich hat, bekommt dort zur Begrüßung vom Direktor vorsorglich eine saftige Ohrfeige verpasst.
Sie ist ein Vorgeschmack auf sadistische Rituale mit klingenden Namen wie „Der Einzug in Jerusalem“ oder „Der Siegelring“, die dem Kind noch bevorstehen. Willkommen zurück in Furth am See! 13 Jahre nach „Die Süße des Lebens“ und neun nach „Das Matratzenhaus“ zieht es Hochgatterer zurück in jene irgendwo zwischen dem oberösterreichischen Salzkammergut und dem Salzburger Land zu verortende Kleinstadt, die auch im Sommer nur an der äußeren Erscheinung gemessen eine Idylle ist.
Hinter der schönen Fassade wartet nicht selten das Grauen, zumindest aber tun sich Abgründe auf. Es kommt zu einem Wiedersehen mit Raffael Horn und Ludwig Kovacs. Sie sind nach wie vor bemüht, die Balance in der Gemeinde aufrechtzuerhalten – obwohl gerade der Psychiater Horn weiß, wie schmal der Grat zwischen dem sogenannten Normalen und dem Krankhaften ist. Kommissar Kovacs seinerseits geht es gesundheitlich höchstens mittelgut. Er hat nicht mehr lang bis zur Pension, lieber würde der passionierte Fischer aber gleich den Hut draufhauen, viel Zeit am Wasser verbringen und den Rest des Tages im Gastgarten in die Luft schauen.
Allerdings scheint im Lokal des Marokkaners Lefti nicht immer die Sonne. Häufig stört die Anwesenheit von Glatzköpfen der Aktion 18 (!) das Bild. Sie bilden den Sicherheitsdienst der „Burg“ – das einstige Kinderheim dient nunmehr als Quartier für sämtliche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Gegend. Regelmäßig kommt es zu Auseinandersetzungen.
Zu guter Letzt ist auch der schräge Pater Joseph wieder mit von der Partie. Er schläft immer noch mit derselben Frau und hat nach wie vor ständig Stöpsel im Ohr, nur hat er Dylan hinter sich gelassen und macht eine Cohen-Phase durch: „Zuletzt habe er einen ganzen Tag lang Bird on the Wire (…) gehört, auch während des Beichtdienstes, und als eine ältere Frau irritiert reagiert habe, habe er sie mithören lassen und gesagt, es gebe nichts, was einen direkter zu Gott führe.“
Horn und Kovacs ist es nicht vergönnt, sich derart von ihrer Umgebung abzuschotten. Sie haben gut zu tun: Bei der Fronleichnamsprozession trifft ein Geschoß einen rechten Recken am Kopf. Eine Volksschülerin wird das Opfer einer ungewöhnlichen Entführung. Und einige ältere Bewohner Furths checken mit hässlichen Verletzungen im Krankenhaus ein, die sie sich partout selbst zugezogen haben wollen. Sie lügen, sind sich Psychiater und Kommissar einig. Der Leser ist ebenfalls zu höchster Aufmerksamkeit angehalten. In den ersten Kapiteln können die Fülle der eingeführten Figuren und die häufig wechselnden Perspektiven verwirren. Vier Erzählinstanzen wechseln einander ab: Horn, Kovacs, die Leiterin des örtlichen Jugendzentrums Come In sowie jene Person, die zusammen mit einem Komplizen das Mädchen entführt hat.
Hat man sich erst einmal eingegroovt, ist Genießen angesagt. Bei Hochgatterer bilden Inhalt und Form eine Einheit. Nichts an seiner Sprache wirkt forciert. Mit wenigen Sätzen versteht er es, Atmosphären zu erschaffen. Das erspart ihm das Auserzählen, das das Lesen von Thrillern und Krimis mitunter mühsam macht. Auch die ganz grauslichen Szenen schenkt er sich, unmittelbar vor Gewaltausbrüchen setzt er Schnitte. Ausreichend finster und beklemmend ist die Lektüre auch so.
Weil das Leben aber selbst in Furth nicht nur bitter ist, existiert gleichzeitig immer das andere: das Schöne, Zärtliche und Orte, an denen die Figuren aufleben. Dem Kriminaler ergeht es so, wenn er seinen Kumpel in der Bootswerft besucht. Der Psychiater findet sein Glück frühmorgens am Berg: „Horn mochte den Platz. Dort und da brauchte man ein wenig Kitsch im Leben. Seit einiger Zeit fühlte er sich alt genug, um sich dagegen nicht mehr wehren zu müssen.“
Die Dienstjahre seiner Helden neigen sich dem Ende zu. So erscheint es fraglich, ob der Autor noch einen vierten Roman in der Serie schreiben wird (der Herbst in Furth wäre freilich noch zu erzählen). Ein Abschied ist „Fliege fort, fliege fort“ auf jeden Fall, denn es ist der letzte Hochgatterer bei Deuticke, sein langjähriger Verlag wird ab 2020 Geschichte sein. In der Verlagslandschaft geht es derzeit ähnlich düster zu wie in Furth am See.