

Landidylle und Hardecore-Gastronomie
Georg Renöckl in FALTER 10/2011 vom 09.03.2011 (S. 21)
Mit seiner Satire "Karte und Gebiet" bedient Michel Houellebecq Freund wie Feind aufs Feinste
Auf gut Französisch darf man Michel Houellebecq durchaus einen "Stecken voll Scheiße" nennen. Als ein solcher bâton merdeux gilt in der Sprache Molières jemand, von dem man nicht so recht weiß, an welchem Ende man ihn anpacken soll. Bei Houellebecq etwa scheint es nur die Wahl zwischen seiner Verehrung als Prophet und Verachtung als Poseur zu geben. Sein Name wirkt in der literarischen Welt als Pawlow'scher Reiz, der neben Speichelfluss stets auch Debatten auslöst.
Die jüngste ist eine Plagiatsdebatte rund um seinen Roman "Karte und Gebiet", der ihm immerhin den Prix Goncourt eingebracht hat. Der Autor wird den Preis wohl nicht zurückgeben: Sein Verlag Flammarion sah sich zwar zu einer etwas peinlichen Stellungnahme nach dem Motto "sollte er etwas abgeschrieben haben, dann sicher nur ganz wenig" genötigt, ernstzunehmen ist die Erregung um ein paar einmontierte Wikipedia-Zeilen über die Fortpflanzung von Stubenfliegen oder das von der Wehrmacht zerstörte Städtchen Beauvais aber nicht.
Bemerkenswerter ist da schon die Artigkeit, mit der sich der Skandalautor für den Preis bedankte, und die geradezu klassische Eleganz in Komposition und Sprache, mit der sein Roman aufwartet. Die aus drei Teilen, Prolog und Epilog bestehende Geschichte vom Leben des Fotografen und Malers Jed Martin wird teils in Rückblenden, teils als Krimi erzählt und erfüllt alle Erwartungen an einen page turner für den feierabendlichen Ohrensessel: Sie liest sich gut, hat Tempo, Spannung, Witz und enthält allerlei Tief- und Abgründiges zu schwergewichtigen Themen wie Liebe, Kunst, Vergänglichkeit, Arbeit, Globalisierung, Väter, Söhne usw.
"Karte und Gebiet" ist aber vor allem eine Satire auf Frankreich, dessen Intellektuelle sowie die Selbstvermarktung als Ferienparadies. Dem jungen Künstler Jed Martin gelingt mit Fotos von Michelin-Landkarten, deren Schönheit und Perfektion ihn faszinieren, der Durchbruch. Sein Überraschungserfolg beruht jedoch auf einem Missverständnis: Es ist nicht Jeds Kunst, sondern die neue Hipness alles Ruralen, Bodenständigen und Lokalen, die für den Erfolg der Landkartenfotos verantwortlich ist.
Dabei wird das Ländliche für Franzosen in der nahen Zukunft, in der die Romanhandlung spielt, gerade zum unerschwinglichen Luxus. Die Tourismuswirtschaft spezialisiert sich zunehmend auf reiche Russen, Inder und Chinesen auf der Suche "nach einer Vintage-, wenn nicht gar Hardcore-Erfahrung im Bereich der Gastronomie". Aus den Gästen werden bald Zweitwohnungsbesitzer, die streng auf Authentizität und Unverfälschtheit achten und das Land in ein Freiluftmuseum verwandeln.
Wer die von Nordeuropäern mustergültig restaurierten Dörfer des Périgord oder der Thiérache kennt, wird die düster-komische Zukunftsvision nicht sonderlich weit hergeholt finden. Ihr Gipfel ist ein orgiastisches Fest der Regionen in einem originalgetreu restaurierten Schloss, dessen prächtiges Bibliotheksgewölbe mit Reiseführern vollgestellt ist.
Zumindest für das französische Publikum gewinnt die Satire sehr viel Komik durch die Integration prominenter Namen aus der Literatur-, Kunst- und Medienszene, die mit ähnlich scharfem Spott bedacht wird wie die Fremdenverkehrsindustrie. Auch ein Autor namens Michel Houellebecq kommt vor, einmal als alkoholkranker, von Ekzemen übersäter poète maudit, dann als fast schon heiterer Landhausbesitzer, der auf der Suche nach den eigenen Wurzeln dem Glück der Kindheit nachspürt und schließlich aus Gründen, die hier nicht verraten werden, auch im Kindersarg beerdigt wird.
Überhaupt wird in diesem Roman viel gestorben, verwest und eingeäschert. Jeds Betrachtungen zu Tod und Verfall zeigen jedoch auch klar die Schwächen des Textes, sobald es darum ginge, von der Satire wegzukommen.
Sie changieren zwischen tatsächlich nachdenklich stimmenden Sätzen ("Ein Kind zu haben, hatte für seinen Vater bedeutet, all seine künstlerischen Ambitionen aufzugeben, und, allgemeiner gesprochen, sich mit dem Tod abzufinden"), ziemlich vorhersehbaren Philosophemen angesichts der zufälligen Nachbarschaft einer Euthanasie-Anstalt und eines Bordells und Phrasen wie: "Irgendwo in dieser Stadt starben vermutlich in dieser Minute Menschen." Wie viele Orgasmen finden in der fabelhaften Welt der unsäglichen Amélie Poulain zur gleichen Zeit noch schnell statt? Nun, vielleicht ist die Assoziation ja Absicht.
Neben ein bisschen schwarzem Kitsch bietet der Roman noch weitere vertraut wirkende Versatzstücke aus Michels Mottenkiste, vom Lob der Prostitution und des Sextourismus über das Interesse für alternative Lebensentwürfe und Zukunftsvisionen der lustigen 60er-Jahre, ein bisschen Geschimpfe über Le Corbusier oder Picasso bis zur Globalisierungs- und Liberalismuskritik am Beispiel der Low-Cost-Airlines.
Immerhin sorgt derlei immer nur kurz für Gähnen, der munter plätschernde Lesefluss wird durch den gewohnt zynischen Blick des Erzählers zwar gut gekühlt, friert aber nicht ein.
"Karte und Gebiet" ist nicht der große Künstlerroman, der das Buch womöglich sein will, auch von anderen ernsthafteren Themen lässt das Säurebad des Houellebecq'schen Spotts außer dem einen oder anderen ätzenden Aperçu nur wenig übrig. Eine scharfsichtige und boshaft funkelnde Satire auf die französische Gesellschaft der Gegenwart ist er aber auf jeden Fall. Sowohl Houellebecq-Verehrer als auch -Hasser werden auf ihre Kosten kommen.