

Wie man die Sprache des Fußballs liest
Wolfgang Kralicek in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 9)
Gleich der zweite Satz bringt dieses Buch auf den Punkt. Er lautet: "Fußball ist für mich primär Sprache." Wendelin Schmidt-Dengler (1942–2008) war nicht nur der renommierteste Germanist des Landes, sondern auch bekennender Fußballfan und Rapidanhänger.
Intelligenten Fußballern sagt man nach, sie könnten ein Spiel "lesen". Inwiefern Schmidt-Dengler das konnte, weiß man nicht. Wenn er über Fußball schrieb, blieb er bei seinem Leisten. Für ihn war der Fußball ein Erzähler, auch ein Dramatiker. Es ging Schmidt-Dengler um die Geschichten, die der Fußball schreibt, um die Tragödien oder auch Komödien, die er aufführt.
Der Zuschauer, schreibt Schmidt-Dengler, könne sich beim Fußball mit elf Figuren identifizieren, mit ihnen lachen oder weinen. Als Beispiel führt er Tormann David Seaman (FC Arsenal) an, der in der Verlängerung eines Europacupfinales von der Mittellinie aus überhoben worden war. "Wer da nicht über sich selbst nachzudenken beginnt, dem ist nicht zu helfen", kommentiert er. An anderer Stelle hält er fest: "Der Fußball, das ist wie eine antike Tragödie."
"Hamlet oder Happel" ist der Titel eines Grundsatzvortrags, den Schmidt-Dengler 2002 zum Thema gehalten hat. Es ist auch der Titel des Bandes, in dem seine über die Jahre veröffentlichten Texte zum Fußball jetzt gesammelt vorliegen. Wobei "oder" im Titel rhetorisch zu verstehen ist. Schmidt-Dengler hatte nie ein Problem damit, die Literatur und den Fußball zusammenzubringen. Schon für den Knaben war der Fußballplatzbesuch ein Ausgleich zur humanistischen Ausbildung, die ihm der an Fußball desinteressierte Vater angedeihen ließ. "Ich kann mir meine nun schon gut fünfzig Jahre währende Faszination durch den Fußball nicht erklären", schreibt er. "Es sei denn, dass es für mich das Andere meines Umgangs ist, eben des Umgangs mit Hölderlin oder Handke, mit Kleist oder Büchner, mit Thomas Bernhard oder Horaz."
Mit der Sprache des Fußballs meint Schmidt-Dengler auch die Sprache der Sportreporter. Die einfache Metaphorik der Fußballberichterstattung ist für ihn part of the game; billige Häme über schiefe Metaphern verkneift sich der Professor deshalb. Wiederholt etwa verweist er auf Edi Fingers sen. Radiokommentar des legendären Córdoba-Spiels von 1978: "Aus diesem Text lässt sich mehr an Kultur- und Sprachgeschichte lernen als aus den meisten Texten der Hochliteratur."
Die Mehrzahl der in "Hamlet oder Happel" versammelten Texte wurde zuerst im Standard veröffentlicht, wo Schmidt-Dengler einige große Turniere – von der WM 1998 bis zur EM 2008 – mit Kolumnen begleitete. Dass dem vielbeschäftigten Autor dabei hin und wieder sachliche Fehler unterliefen (die Austria war natürlich nie in einem Europacupfinale der Meister), ist verzeihlich. Dass diese für die Buchausgabe nicht korrigiert wurden, weniger.
Liest man die über einen längeren Zeitraum publizierten Artikel hintereinander, fällt auf, dass Schmidt-Dengler manches immer wieder thematisiert. Zum Beispiel fasziniert ihn die Vorstellung, dass nicht nur Intellektuelle über Sport schreiben, sondern sich umgekehrt auch Sportler zu intellektuellen Themen äußern könnten. "Warten wir vergebens darauf, dass uns Heinz Prüller über das Zweite Vaticanum aufklärt und Herbert Prohaska den ,Mann ohne Eigenschaften' erläutert?" Mehrfach weist Schmidt-Dengler auch darauf hin, dass Elias Canetti zu seinem epochalen Werk "Masse und Macht" (1960) angeregt wurde, als er in der Nähe des alten Rapidplatzes wohnte und zum Ohrenzeugen der jubelnden Massen wurde. Die Anekdote erfüllt den Rapidler Schmidt-Dengler sichtlich mit Stolz."
Ansonsten geht der Germanist mit literarischen Verweisen sparsam um, wenn es um Fußball geht. Angetan hat es ihm allerdings ein Text von Theodor Adorno. "Das Endspiel verstehen kann nichts anders heißen als seine Unverständlichkeit verstehen", schreibt der Philosoph. Gemeint ist Samuel Becketts "Endspiel". Aber wäre Adorno ein ebenso leidenschaftlicher Fußballfan gewesen wie Schmidt-Dengler, hätte er gewusst, dass man dasselbe auch vom Fußball sagen könnte.