

Rechter Terror, schemenhaft
Sebastian Fasthuber in FALTER 31/2023 vom 04.08.2023 (S. 30)
In „Laufendes Verfahren“ rollt Kathrin Röggla den NSU-Prozess literarisch noch einmal auf – ohne Erkenntnisgewinn
Groß, lang, teuer: Der Prozess um den rechten Terror der NSU in Deutschland war eines der aufwendigsten Gerichtsverfahren in der Geschichte des Landes. Er drehte sich um neun Morde an Migranten, einen Polizistenmord, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle und 43 Mordversuche. 438 Verhandlungstage gab es zwischen Mai 2013 und Juli 2018 am Münchner Oberlandesgericht. Das Kürzel NSU steht für „Nationalsozialistischer Untergrund“. Unter diesem Namen operierte eine terroristische Gruppe von circa 1999 bis 2011. Im Kern bestand sie aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und ihrer Lebensgefährtin Beate Zschäpe. Die beiden Männer entzogen sich ihrer Festnahme durch Suizid. Zschäpe wurde am Ende zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das anfänglich große öffentliche Interesse an dem Prozess, den die Journalistin Annette Ramelsberger als „Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft“ bezeichnete, war da schon ziemlich erloschen gewesen. Warum müssen wir das eingangs referieren? Weil Kathrin Rögglas neuer Roman viel voraussetzt und fast nichts erklärt. Die in Köln lebende österreichische Autorin hat nicht etwa einen Gerichtsthriller geschrieben, sie zeichnet den Prozess mit den ihr eigenen literarischen Mitteln nach. „Laufendes Verfahren“ ist folglich ein hochartifizielles, ausgetüfteltes Konstrukt – eine Collage aus Zitaten, Beobachtungen und juristischem Fachvokabular mit häufig wechselnder Perspektive. Ein „Wir“ spricht im Chor über den Prozess und die verschiedenen „Ichs“, die es ausmachen, kommen auch einzeln zu Wort. Röggla lässt jene Prozessbeobachter reden, die nicht als professionelle Medienvertreter vor Ort waren. Nennen wir sie interessierte Bürger. Dazu gehören ein pensionierter Jurist oder eine aufgebrachte Frau mit Migrationshintergrund. Die Autorin verpasst ihnen halblustige Namen: Gerichtsopa, Bloggerklaus, Omagegenrechts oder Vornamenyildiz. Lustiger wäre es gewesen, hätte sie sich auch selbst einen sprechenden Namen gegeben. Röggla verfolgte den Prozess im Saal 101 des Oberlandesgerichts München ebenfalls von der Beobachtertribüne aus mit. Wie wäre es mit „Literaturkathrin“? In literarischer Hinsicht ist „Laufendes Verfahren“ ein Meisterstück, wenn auch ein sprödes. Röggla führt auf dem überschaubaren Raum von gerade mal 200 Seiten eine sprachliche Vielfalt auf, wie sie in zeitgenössischen Romanen sonst kaum noch wo zu finden ist. Das beginnt schon bei den Zeitformen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Buches ist im Futur 2 verfasst. Und das klingt so: „Der eine aussagebereite Angeklagte wird lange der einzige unter den Angeklagten gewesen sein, der wirklich gesprochen hat, d. h., der sich hinausgewagt hat auf für ihn eisiges Gebiet.“ Die vollendete Zukunftsform bezeichnet ein Geschehen, das in der Zukunft als abgeschlossen angesehen wird. Röggla erzeugt damit eine spürbare Distanz zum Geschilderten. Womit wir beim Problem angelangt sind: Der Text ist bei aller Virtuosität über weite Strecken schemenhaft und bietet keine Möglichkeit zur Identifikation. Man erfährt kaum etwas über die Täter und ihre Sozialisation und noch weniger über die Opfer. Als Gerichtsroman taugt das Buch auch nur bedingt. Es bietet zwar Einblick in den Prozessalltag, jedoch sehr ausschnitthaft. Die Autorin konzentriert sich auf Methoden und Ablenkungsmanöver der Verteidigung. Engagierte Literatur? Ebenfalls Fehlanzeige. „Laufendes Verfahren“ ist weder flammendes Plädoyer gegen den Rechtsruck, der die Mitte der Gesellschaft erfasst hat, noch maßt sich Röggla an, für die Opfer die Stimme zu erheben. Was bleibt, ist das vage Bild von einem Gericht als Planet für sich. Viel Kunst, kein Erkenntnisgewinn.