

Ein ernüchternder Abschied
Stefanie Panzenböck in FALTER 6/2018 vom 09.02.2018 (S. 33)
Das Verschwinden als Versprechen: Der letzte Teil von Elena Ferrantes Neapel-Epos führt in die erlösende Auslöschung
Die Hoffnung auf ein besseres Leben ist immer ein Trugschluss. Nachdem die unter Pseudonym arbeitende italienische Schriftstellerin Elena Ferrante ihre Protagonistinnen Lila und Lenù durch eine Kindheit voller Gewalt, in die Schule, die Liebe, den Schmerz, die Ehe und die Arbeitswelt geschickt hatte, lässt sie die beiden nun im vierten und letzten Band ihres Neapel-Epos reifen, altern und resignieren.
Die Rahmenhandlung der Tetralogie, die international zum Bestseller wurde, ist so simpel wie spannungsreich: Die Schriftstellerin und Erzählerin des Romans, Elena Greco, genannt Lenù, erfährt Anfang der Nullerjahre vom Verschwinden ihrer Freundin Lila. Um zu verstehen, warum das passiert ist, rekonstruiert sie ihre und Lilas Freundschaft, die sie seit Kindheit prägt und in einem Armenviertel Neapels in den 1950er-Jahren begann.
Der vierte Band bildet nun den ernüchternden Abschluss einer Geschichte, die vom Leben und Überleben als Frau, von der Suche nach Identität und Freundschaft handelt. Ferrante verlässt zwar wie in den vorangegangenen Bänden Italien kaum, verwebt die Handlung mit politischen Ereignissen, wie der Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro, macht auch die aufkommende Digitalisierung zum Thema, indem sie Lila zur IT-Unternehmerin werden lässt – doch am Ende steht die pure Existenz zweier Frauen, die ihr ganzes Leben um ihre Freiheit kämpfen, auf dem Spiel.
Elena, die Erzählerin, wählt den Weg über die Bildung, wird eine erfolgreiche Schriftstellerin und heiratet einen jungen Professor aus einer angesehenen Familie. Lila, die nach der Volksschule ihrem Vater, dem Schuhmacher, helfen muss, verschafft sich mit der Zeit durch ihr kompromissloses, gewalttätiges Auftreten im Heimatbezirk Respekt – auch bei den lokalen Mafiabossen. Beide Frauen befreien sich aus ihren Ehen und fügen sich hernach den Vor- und Nachteilen eines familiären Flickwerks. Mit der romantischen Liebe schließen sie ab, am Ende geht es um das kostbare Gut der Anerkennung.
Erzeugt Ferrante in den ersten drei Bänden – „Meine geniale Freundin“, „Die Geschichte eines neuen Namens“, „Die Geschichte der getrennten Wege“ – ein rauschgleiches Leseerlebnis, dessen Sog unwiderstehlich und düster ist, so schlägt man „In der Geschichte des verlorenen Kindes“ auf einem recht harten Boden auf.
Die Hoffnungen, Träume, auch die Ängste und der Kampf mit sich und der Welt nähern sich einer vorhersehbaren Erkenntnis und einem unerträglichen Schmerz: Das Leben ist eine einzige Ernüchterung und der Verlust eines Kindes stellt alles infrage. Es bleibt – wieder einmal – die Flucht. Und im Gegensatz zu den vorangegangenen Bänden gelingt sie. Elena verlässt Neapel endgültig, Lila verabschiedet sich, wie zu Beginn des Romans angekündigt, ins Nichts. Sprachlich ist „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ ein Spiegelbild der ernüchternden Handlung. Die Zeitsprünge, die bewältigt werden müssen, werden größer und bisweilen in belanglose Aufzählungen verpackt, die Erzählweise wirkt manchmal holprig.
Das ändert sich schlagartig, wenn sich die Handlung den existenziellen Tiefpunkten nähert, wenn etwa Lila, diese starke, verbitterte und oft brutale Figur, an den Rand des Wahnsinns getrieben wird.
Sie muss sich während des gewaltigen Erdbebens im Jahr 1980, bei dem in der Region zwischen Neapel und Potenza über 2900 Menschen starben, ihrer Urangst stellen, die sie seit ihrer Kindheit begleitet: der Furcht, dass sich die Konturen der Menschen und Dinge um sie herum auflösen.
Lenù versucht ihre Freundin zu beruhigen, vergeblich: „Sie schrie, es sei ihr immer schwergefallen, zu glauben, dass das Leben feste Ränder habe, denn sie habe von klein auf gewusst, dass das nicht stimme – es stimmte absolut nicht –, und daher könne sie nicht auf deren Reiß- und Stoßfestigkeit vertrauen.“
Das Verschwinden war das Versprechen, das die im Verborgenen agierende Ferrante ihren Lesern gegeben hat. Am Ende wird die Auslöschung zur Erlösung.