

Der Sog der Ferrante
Stefanie Panzenböck in FALTER 36/2020 vom 04.09.2020 (S. 37)
Neapel ist geblieben. Ebenso der Kampf um den gesellschaftlichen Aufstieg und die Brutalität der Alltäglichkeiten. Die Biografie einer heranwachsenden Frau und die Entdeckung des Ekelhaften in einer porösen Schönheit. All diese Themen hat die italienische und unter Pseudonym schreibende Schriftstellerin Elena Ferrante in ihrem Neapel-Vierteiler über die Freundinnen Lenú und Lila behandelt, und sie kehren auch in ihrem neuen Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ wieder.
Doch dieses Mal ist Neapel ein nahezu ahistorischer Ort, der eine zweigeteilte Kulisse bietet: das Oben, das Viertel Vomero, wo die Bildungsbürger wohnen, und das Unten, die Zona Industriale, wo die arme Verwandtschaft zu Hause ist. Beide Welten bleiben einander fremd. Die Entwicklung der Figuren wird nicht mit der italienischen Geschichte verknüpft, sondern ausschließlich die Erforschung des Innenlebens eines jungen Mädchens ins Zentrum gestellt, das zwischen den beiden Welten hin- und hergerissen ist. Dass der Roman in den 1990er-Jahren spielt, ist ein Hinweis ohne große Bedeutung.
Es geht um die Pubertät als grausamen Lebensabschnitt, durch den man wie durch eine schwarze, schmierige Höhle tauchen muss. Der Dreck bleibt an einem kleben, egal, was man tut. Ferrante gelingt eine von der zeitlichen Einordnung losgelöste Beschreibung dieser Phase in vielen schmerzhaften Details.
Die Protagonistin Giovanna Trada, die in einer kurzen Einleitung zu erkennen gibt, dass sie als Erwachsene auf ihre Jugend zurückblickt, ist zu Beginn der Geschichte fast 13 Jahre alt. Eines Tages hört sie, wie ihr Vater sagt, sie komme ganz nach seiner Schwester, Vittoria. Ein schlimmeres Urteil hätte er kaum fällen können.
„Der Name Vittoria klang bei uns zu Hause wie der eines Monsters, das jeden besudelt und infiziert, der mit ihm in Berührung kommt.“ Vittoria und Giovannas Vater hassen einander. Sie arbeitet als Putzfrau und blieb in der Zona Industriale, ihm gelang der Aufstieg zum Professor und Intellektuellen.
Giovanna bekommt Angst, der Tante tatsächlich ähnlich zu sein, und wird gleichzeitig neugierig. Gegen den Willen ihrer Eltern nähert sie sich Vittoira an, die das Gegenteil von allem ist, was sie bisher kannte. Sie ist laut, vulgär, unberechenbar und katholisch. Sie erklärt ihrer Nichte die große Liebe und leidenschaftlichen Sex, widerspricht sich dabei ständig selbst.
Doch Giovanna hat vor allem genug von ihren Eltern, deren Lügen immer deutlicher sichtbar werden. Vor Giovannas Augen zerbricht das Leben, in das man sie scheinbar sicher gebettet hat. Die Geschichte, die die Protagonistin von ihrem 13. bis zu ihrem 16. Lebensjahr begleitet, ist keine besondere, aber umso besser ist sie erzählt.
Wie auch in ihren anderen Romanen lässt Ferrante die Leserinnen und Leser in die hintersten Kammern ihrer Charaktere blicken, um ihnen gleich wieder die Türen vor der Nase zuzuschlagen. Nichts Gutes und nichts Böses ist auszumachen, Zerrissenheit und Zweifel treiben die Figuren.
„Eigentlich wollte ich in dem Augenblick wirklich über das Böse mit ihm diskutieren“, befindet Giovanna bei einer Autofahrt mit ihrem Vater, „das sich, während du glaubst, gut zu sein, langsam oder plötzlich in deinen Kopf, in deinem Bauch, in deinem ganzen Körper ausbreitet. Wo kommt das her, Papà – wollte ich ihn fragen –, wie kann man es beherrschen, und warum fegt es das Gute nicht weg, sondern existiert stattdessen neben ihm.“
Wer den Sog der Ferrante vermisst hat, kann hier wieder einsteigen. „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ mag nicht so facetten- und spannungsreich angelegt sein wie die Tetralogie um Lenú und Lila, es ist aber um nichts weniger mit genialen Zwischentönen, Irritationen und Unklarheiten gefüllt, die sich langsam zu einem Bild fügen. Gewiss ist nur, dass es am Ende wieder in seine Einzelteile zerfällt.