

Noch ein Brief an den Vater
Karl Wagner in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 11)
In der Sautratten: Eine Gemeinschaftswiese des Vergessens. Josef Winklers nachgetragene Heimatkunde
Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe“ ist ein wütender, manchmal auch trauriger Brief an den als „Tate“ angeredeten Vater, mit dem der Autor schon einmal seinen Frieden gemacht zu haben schien. Doch nun bricht alles nochmals auf und auseinander in einem unregulierten, aber nicht formlosen Brief an diesen. Bestückt mit Paratexten der besonderen Art: Gedichten des jiddischen Autors Rajzel Zychlinski und der seriellen Ballade „Der Herr, der schickt den Jockel aus“, die mit ihren zehn Strophen auch die Motti für die vielfach verketteten Erzählkapitel abgibt. Diese haben auch noch Überschriften, die als eine Art poetischer Regesten für die Erinnerungsarbeit dienen. Etwa diese, die erste: „Türkenfiedern unter Schwalbennestern, / No Milk Today und / ,Zwei Millionen ham’ma erledigt!‘“
Ein Erinnerungsbild an das Maisessen am Bauernhof der Eltern verknüpft sich mit einem Popsong der Band Herman’s Hermits (der auch in Handkes „Immer noch Sturm“ auftaucht) und dem grausamsten Selbstlob eines NS-Schlächters: Odilo Globocniks zynisches Resümee des industriell betriebenen Massenmords an Juden, den der aus Klagenfurt stammende SS-Brigadeführer, ab November 1939 im Distrikt Lublin SS- und Polizeiführer, organisiert hat. Der Protegé Heinrich Himmlers wird 1943 nach Triest versetzt, wo er zusammen mit seinen Kärntner Freunden in der „Abteilung R“ für die Deportation und Vernichtung der Juden zuständig ist. Eine leerstehende alte Reismühle in der Stadt wird in ein zentrales Vernichtungslager umgebaut (Risiera di San Sabba).
Werner Koflers „Tanzcafé Treblinka“ (2001) erinnert an das Klagenfurter Tanzcafé Lerch, das Globocniks Mittäter und Freund Ernst Lerch („SS-Hauptsturmführer / SS-Sturmbannführer / SS-Obersturmbannführer Ernst Lerch, / Judenreferent und Stabsführer“) betrieben hatte. Lerchs Verbrechen sind nach 1945 nicht geahndet worden. Über dessen Chef aber heißt es in Koflers Stück: „Der erste und allererste / nationalsozialistische / Übertreibungskünstler / Globocnik –“.
Johannes Sachslehners lehrreiche Biografie „Zwei Millionen ham’ma erledigt“ über „Hitlers Manager des Todes“ (2014) ist von Josef Winkler nachweislich benützt worden, insbesondere die Kapitel über Globocniks Zyankali-Selbstmord am 31. Mai 1945 und dessen form- und zeichenlose Verscharrung durch britische Soldaten in der „Sautratten“, einem Grundstück am Ufer der Drau, das von den Bauern des Ortes, unter ihnen Winklers Vater, gemeinschaftlich genützt wurde.
Die Tatsache aber, dass über beides nie gesprochen wurde, das Schweigen des Vaters und das „Gedächtnis des Bodens“, entfesselt im Sohn eine sprachmächtige Energie, die Winklers Brief an den Vater buchstäblich mitreißend macht. Der Erzähl- und Erinnerungsstrom führt Sprach- und Sprechmuster mit sich, die Winkler-Leser kennen, Passagen aus früheren Werken, Motive („der Kalbstrick“, das Schutzengelbild, Leitwörter und Selbstzitate werden ebenso eingespeist und verwandelt wie die jugendliche Karl-May-Begeisterung und der Kanon der Lektüren, die Winklers Schreiben ermöglicht und geprägt haben.
In nachgetragener Erinnerung wird auch die Verzweiflung des jungen Autors spürbar, der mit Fertigstellung seiner Trilogie „Das wilde Kärnten“ glaubt, die Sprache verloren zu haben. Die Heimkehr ins heimatliche Dorf Kamering wird zum Spießrutenlauf: Er wird von den Nachbarn und den Leuten des Dorfes denunziert und beschimpft. Mit einer bezeichnenden Übertreibung wird ihm vorgeworfen, er habe das Dorf „kaputtgeschrieben“.
„Erzähler unerwünscht“ scheint die Devise des schweigenden Kollektivs zu sein. Genauer gesagt: eine bestimmte Art des Erzählens; denn der vom Krieg und Nationalsozialismus nach wie vor begeisterte Vater und seine Verwandten pflegen durchaus ein Ritual des Erzählens, das Erfahrung und Erinnerung ausschaltet. Die ständig wiederholten Phrasen und Mustersätze werden von den Kindern verspottet und vom Autor höhnisch verstärkt.
Mit dem Bild vom in der Erde verrottenden Skelett des Judenmassenmörders Globocnik, das die Feldfrüchte des Vaters nährt und so in die Nahrungskette gerät, schafft Winkler ein groteskes und monströses Zeichen von einem zum ewigen Wiederholungszwang verdammten gesellschaftlichen Kollektiv. Folgerichtig endet der Text mit einem ungenießbaren, unflätigen Sprachbrei der ironisch so genannten „Kriegsberichterstatter“.
Zu den anrührendsten Elementen des Selbstzitats, zu dem aus dem früheren Werk „Wieder-Geholten“, gehören die Sequenzen über ein zu Unrecht wenig beachtetes Buch von Josef Winkler: „Die Verschleppung“, seine dokumentarische Biografie einer ukrainischen Zwangsarbeiterin in Kärnten, Njetotschka Iljaschenko. In „Lass Dich heimgeigen“ wird von der „Menscherkammer“ des damals vierzehnjährigen Mädchens ebenso berichtet wie, als literarische Hommage, an das nach dem ukrainischen Lyriker benannte „Straßenschild ,Boulevard Taras Schewtschenko‘ auf der Mauer der Kathedrale des heiligen Volodymyr in Kiew“.
„Die Verschleppung“ ist 1983 erschienen; der Autor ist mit 30 Jahren genau in jener Phase seines Schriftstellerlebens, die er nun als besonders gefährdet und bedrohlich einschätzt. Das Projekt, einen Roman über die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu schreiben, bedarf zur Selbstvergewisserung der Sprache des Vaters, die helfen soll, jene des Sohns wiederzubringen. Der Vatermord wird, als eine besondere Form der Grausamkeit, bis auf Weiteres nicht stattfinden.