

Käuze und andere seltsame Vögel
Sigrid Löffler in FALTER 11/2014 vom 14.03.2014 (S. 25)
Saa Staniić meldet sich nach acht Jahren mit seinem zweiten Roman "Vor dem Fest" zurück
Es ist ein Riesensprung von der belagerten Stadt Viegrad an der Drina zum stillen Städtchen Fürstenwerder in der Uckermark – geografisch, biografisch und literarisch. Saa Staniić, der 1992 als 14-Jähriger mit seinen Eltern vor den serbischen Massakern in seiner bosnischen Heimatstadt nach Deutschland flüchtete, benötigte weitere 14 Jahre, ehe er sich die Last von der Seele schreiben und den bosnischen Bürgerkrieg für sich bewältigen konnte – mit seinem Viegrad-Roman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" (2006).
Der märchensüßtraurige Kindheitsroman, auf Deutsch geschrieben und in 30 Sprachen übersetzt, wurde ein internationaler Erfolg. Staniić musste sein Buch jahrelang rund um die Welt vorstellen und bewerben. Weshalb es acht Jahre dauerte, ehe er nun seinen neuen Roman "Vor dem Fest" vorlegen kann, den notorisch heiklen Zweitling, der es allerdings sofort auf die Kandidatenliste für den Leipziger Buchpreis schaffte.
Eines hat das neue Buch schon auf den ersten Blick mit dem Debütroman gemein: Staniić macht sich abermals an die Verzauberung der Wirklichkeit, indem er die Welt mit Mythen und Märchen umrankt. Doch ist der Romanschauplatz diesmal nicht das zerfallende Jugoslawien, sondern die verschwundene DDR, keine umkämpfte, sondern eine fast schon aufgegebene Stadt, genauer: ein wehrhaftes Dorf, das an zwei Seen und an zwei Grenzen hockt, mit einer mittelalterlichen Mauer samt Stadttoren rundherum. Das uckermärkische Fürstenwerder, das im Roman Fürstenfelde heißt, markiert die Grenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg.
Es ist ein verschlafener Ort in einer Seenlandschaft, den sich Saa Staniić für seinen Roman erträumte, ehe ihm eine Berliner Freundin versicherte, dass es ihn tatsächlich gibt. Ein Ort, dessen gute Zeit immer schon vorbei war und dessen Einwohner nach der Wende von 1989 häufig abwanderten, sodass das Dorf bis auf Idylle und Schrulligkeit scheinbar nichts zu bieten hat – außer dem Reichtum an Mythen, Märchen und alten Sagen, in die Staniić es nun einspinnt und einzaubert, mithilfe von viel Wortmagie, Sprachgaukelei, Fantasie und lustvoll gefälschten alten Chroniken und Kirchenbüchern.
Es ist die Nacht vor dem traditionellen Annenfest, das wie alle Überlieferung in Fürstenfelde halb vergessen oder falsch erinnert ist – abgesunkenes Brauchtum, längst eingeschlafen und nun touristisch wiedererweckt: "Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen." Die Erzählerstimme des Romans ist dieses kollektive Wir, das personifizierte raunende und staunende, spintisierende, fabulierende, schwatzhafte Dorfgesumm. Dieses Wir kann sich nur wundern, dass es Fürstenfelde überhaupt noch gibt: "Wie krass unwahrscheinlich das ist, dass seit Jahrhunderten immer welche überlebt haben, Leben gezeugt haben, und jetzt ist man selber dieses Leben."
Was dieses Wir von früher zutage fördert – und "früher" meint immer die Vorwendezeit –, verschwimmt im Ungewissen mit dem Heute. In der Nacht vor dem Fest zeigt sich das Dorf schlaflos, bevölkert von Lebenden und Toten. Die Geister der Vergangenheit treiben ihr Wesen, Heutige erscheinen als Wiedergänger verstorbener oder auch nur legendärer Gestalten von früher. Vielleicht soll das Annenfest an die Dorfhexe Anna erinnern, die einst auf dem Scheiterhaufen feierlich verbrannt worden sein soll; mehrere Anna-Wiedergängerinnen streunen durchs heutige Dorf, eine davon ist die eigenbrötlerische Joggerin Anna, doch auf dem Scheiterhaufen wird morgen wohl nur eine Puppe verbrannt werden.
Das Dorf wacht und träumt zugleich, ist im Hier und Jetzt und im Früher befangen, und die meisten Erzähl- und Erinnerungsfäden laufen bei Frau Schwermuth zusammen, der übergewichtigen und depressiven Dorfchronistin und Kräuterfrau, die das Haus der Heimat des Geschichtsvereins Fürstenfelde e. V. leitet, ein seltsam geheimnistuerisches Museum für Lokalgeschichte und noch seltsameres Archiv für Lokalgeschichten, ob die Archivarin die Urkunden nun selbst gefälscht hat oder nicht.
Niemand hat es beobachtet, doch ein Fenster ist eingeschlagen, das Archiv ist aufgebrochen worden. Gestohlen wurde nichts, doch offenbar sind die Geschichten aus dem Archiv ausgeschwirrt – oder aus Frau Schwermuths Geist? Nun nachtwandeln die Geister der Geschichten durchs Dorf und gehen den wachenden Dörflern durch den Kopf. Auch ein mythisches Tier schnürt durch die Nacht, durch die alten Geschichten und durch die Jahrhunderte: die Fähe, eine Füchsin auf der Jagd nach Nahrung für ihre Jungen. Genau diese wachtraumhafte nächtige Stimmung hatte Saa Staniić für seinen Roman im Sinn: "Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der die Geschichten sich der Menschen annehmen und im Laufe einer Nacht von ihnen Besitz ergreifen, sodass sie in eine Art Dauererzählzustand verfallen, angesteckt von einem Dauererzählvirus."
Bei allem Vergnügen an der barocken Sprachtümelei seiner Erfindungen oder Fundstücke aus der Dorfchronik mit all ihren Teufelssagen, Räubergeschichten und Kesselflickermärchen achtet Staniić sehr genau auf die plausible Verankerung seines fiktiven Fürstenfelde in der Wirklichkeit. Monatelang hat er wie ein Journalist im realen Fürstenwerder Material gesammelt. Den Kindernachwuchs, die Tankstelle, den Friseur, den Stundentakt für den Bus hat der Ort verloren; manches alte Gewerbe und Handwerk stirbt aus; mangels Wirtshaus treffen sich die Trinker in Ullis Garage.
Und doch verfügt das Dorf über eine reiche Fauna von Käuzen und seltsamen Vögeln, manche zugeflogen wie Frau Kranz, die Malerin aus Schlesien, manche arbeitslose Grünschnäbel wie die kleinen Gauner Lada und Suzi, manche aus DDR-Altbestand, wie etwa Herr Schramm, ehemaliger Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz arbeitender Traktorfahrer bei Von Blankenburg Landmaschinen. Der Stadtherr Poppo von Blankenburg figuriert hier als durch die Jahrhunderte flatternder Wappenvogel des Dorfes. Der greise Glöckner weiß nicht, wie er die Glocken Bonifatius und Bruno läuten soll, denn jemand muss diese gestohlen haben. Und der Fährmann, der über alles Bescheid wusste, was das Dorf betraf – der ist leider tot. Nach ihm kommt keiner mehr.
Mit 36 Jahren hat sich Saa Staniić immer noch den Charme eines jünglingshaften Pubertätsflaums bewahrt. Das gilt auch für seinen neuen Roman, dessen Erzählstil alle Spuren kindlich verspielter Märchen- und Fabulierlust trägt. So ist "Vor dem Fest" ein Wenderoman der etwas anderen Art geworden – einer, der in die Geschichtstiefen hinuntertaucht und ganz andere Vergangenheiten zutage fördert als die paar mickrigen DDR-Jahrzehnte.